Zum Liederabend am 31. Oktober 1969 in Heidelberg


Heidelberger Tageblatt, 3. November 1969

Vom Crescendo des Todes

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schuberts "Winterreise" in der ausverkauften Stadthalle

Man möchte die Beschreibung dieses im Tiefsten unbeschreiblichen Abends vom Ende her beginnen, vom Dialog mit dem "Leiermann" her und sollte vielleicht noch besser ihn gleich konfrontieren mit dem Dialog des ersten Liedes, dem Gute-Nacht-Lied an das Liebchen. Wie harmlos-idyllisch fast, wenn das Wort angesichts der unerbittlichen Reise in den Tod nicht fatal wäre, wie behutsam zudeckend klingen dort noch die von unserem Sänger in ganz verhaltenem piano fast geflüsterten Worte: "...will deinen Schlaf nicht stören..." und wie unwirsch braust noch einmal der Gefangene des Todes kurz gegen den Leiermann auf, an den er sonst dumpfe, fast schon verstummte Fragen richtet, die im Grunde gar keine Antwort mehr erwarten. Wer keine Gänsehaut mehr hat, er konnte sie hier wieder bekommen; Dietrich Fischer-Dieskau konnte ihn in diesen Minuten das Frösteln wieder lehren, dem keine Wärme, kein Versuch, keine Hoffnung aus den Bildern des Winter-Reisenden in den Tod mehr helfen kann.

Wir wurden vorbereitet auf diesen Augenblick. Unser Künstler ist auch seinen Hörern gegenüber unerbittlich, indem er ihnen die konzertübliche Pause versagt. Er entläßt sie nicht mehr in das Foyer-Palaver und zwingt ihnen die 24 Lieder als Stationen einer düsteren Ballade auf – hatte nicht schon Schubert von dem "Kranz schauriger Lieder" gesprochen? Das Schaurige in unserem Leben können wir nicht nach Belieben mit ein paar Zigaretten abschalten; wir müssen es wenigstens für diesen Abend zu einem Teil unseres Lebens machen. So will es der Sänger, so wollte es Schubert.

Damit ist eine Frage getroffen, über die Gelehrte mancherlei Gedanken ausgetauscht haben: ob subjektives Gefühl oder objektive Gegenständlichkeit in diesem Zyklus das Vorrecht habe. Die Titel neigen sehr oft zur bildhaften Gegenständlichkeit: Wetterfahne, Lindenbaum, auf dem Flusse, die Post, die Krähe, im Dorfe, der Wegweiser, das Wirtshaus, der Leiermann ... und zumal für einen Sänger, der auch Opernsänger ist, mögen hier Gefahren lauern, wenn er nicht Fischer-Dieskau heißt. O ja, auch er  s p i e l t  uns ein wenig die Lieder vor, mit einer Seitendrehung des Körpers, mit einem trotzigen Zucken des Kopfes, das schon im Vorspiel beginnen kann, mit einem Schritt nach vorn oder zurück, mit einem Minimum an Gebärdensprache der Hände. Aber er hält sich und uns eisern in der Klammer des Lyrischen, dem nun einmal das Lied zugehört, das Lied, das hier ein gewaltiges Crescendo in den Tod ist und immer wieder unterstreicht er leis, aber spürbar die Schlußworte einzelner Lieder, die darauf hindeuten: Du fändest Ruhe dort . . . jedes Leiden auch sein Grab ... wie weit noch bis zur Bahre ... die noch keiner ging zurück ... wie gesagt: Wir wurden vorbereitet auf das letzte Lied und aus dem Vielerlei der Bilder schuf der Sänger eine imaginäre Einheit; das rein Gegenständliche wurde aus seiner Bildhaftigkeit in die Sinnhaftigkeit überführt.

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Und wie stehts mit dem Gefühl des, der das alles erduldet? Fischer-Dieskau ist Sänger, auch Opernsänger wie gesagt, und manches führt er tatsächlich ganz nah an die Kantilene einer Opernarie heran, etwa in der "letzten Hoffnung", wo er einmal Melos verschwendet. Aber sonst wird das Gefühl abgeschlossen in einer Piano-Kunst, deren Variabilität im Laufe des Abends immer wieder erschüttert. Denn dieses piano scheint mir ein Teil des Geheimnisses zu sein, mit dem dieser Sänger den Stoff und die Hörer bezwingt: es kann einfach, sozusagen technisch, wie gleich im ersten Lied an das Falsett heranführen, es kann mit trockener Monotonie Trostlosigkeit zeichnen, es kann im schlichten Dialog ängstlich fragen, es kann als Unschuld erscheinen wie in den Worten: Habe ja doch nichts begangen ... und es kann die völlige Resignation sein: ... den noch keiner ging zurück. Und in dieses piano fahren oft unwirsche Akzente wie ein Blitz hinein, gleichsam das dies irae im Requiem, in dessen grellem harten Licht dann auch ganz andere Lieder stehen können wie etwa der "Mut", der doch bei diesem Träumer, der Blumen im Winter sah, längst keiner mehr ist ... Lustig in die Welt hinein gegen Wind und Wetter – wer glaubt ihm das? Wer Fischer-Dieskau hörte, hörte auch den verzweifelten Spott.

Es gäbe noch vieles zu sagen über die Wunder dieser Winter-Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen Lyrik und Dramatik bei diesem Sänger, aber ein paar Stichworte der Erinnerung müssen hier genügen: Die Kunst, auch die Pausen, sowohl als Zäsuren im Zyklus wie auch innerhalb des Liedes mit am Werke schaffen zu lassen, ritardandi und accellerandi in die Deklamation einfließen zu lassen, ohne daß sie manieriert wirken, Vokale zu dehnen und dadurch die Sprache sehr plastisch zu machen oder Konsonanten wie das L in "ihr lacht wohl..." zum malenden Dienst zu verpflichten – ich weiß nicht, wer diesen Zyklus heute erschütternder und doch unkomplizierter, verständlicher, einfühlsamer und zugleich eigenwilliger singt als dieser Sänger.

Am Flügel ist Günther Weißenborn ein offenbar völlig kongenial mitgestaltender Begleiter. Der größtenteils weiche Flügelklang hält merkliche Distanz zum Sänger, aber die Paraphrasen von Rhythmen und Motiven, vom Volksliedhaften bis zum expressionistischen Schrei und zur impressionistisch leeren Quinte des letzten Liedes fügen sich völlig in die vom Singenden bestimmte Atmosphäre ein – ein Mitdichter, der dennoch Diener bleibt. Mit Blumen reichlich eingedeckt, trennten sich die Beiden nach ungezählten Hervorrufen von den Hörern.

Otto Riemer


   

     Zeitung und Datum unbekannt     

   

"Und denke dem Traume nach"

Fischer-Dieskau sang im Heidelberger Meisterkonzert die "Winterreise"

     

Dietrich Fischer-Dieskau ist ein Sänger, der nicht stehen bleibt. Der sich ständig prüft. Der an seiner Reifung arbeitet. Wer seine großartigen Leistungen der letzten Jahre kennt und jetzt – am Ende des Jahres 1969 – hört, wie erfüllt er Schuberts Winterreise singt, der ist betroffen von dem vertieften Ernst dieses Sängers, von seiner Wahrhaftigkeit und seiner verstehenden Menschlichkeit. Es geht bei ihm nicht um Stufen musikalisch-stimmlicher Vollendung, sondern es geht um ein Wachsen in konzentrischen Ringen; nicht darum, Stimme zu haben und sie vollkommen zu haben, sondern ganz Stimme zu werden.

Fischer-Dieskau macht aus der Winterreise kein Drama und kein wehleidiges Seelengemälde. Er singt die Eskalation der Einsamkeit des in der Liebe verwundeten Herzens mit all den Vorbehalten, den Erinnerungen, den liebgewordenen Täuschungen, der Angst, den Widerständen, die Schubert am einfachen Gerüst der Worte Wilhelm Müllers in den Innenraum des Herzens hinausgespannt hat. Fischer-Dieskau duldet keinen Aufenthalt, der Emotionen provozieren könnte. Sein Singen zwingt zur Wahrheit, auch in der Empfindung des Hörers. Ihm steht es zu, das heikelste Lied in diesem Zyklus, den "Lindenbaum", so immateriell, so gesammelt, so Asche des Gewesenen zu singen, weil er die Erinnerung laufend an der Gegenwart, an der Kälte des Winters mißt. Keine Idylle und keine Klage, sondern nackte Wirklichkeit eines erschreckten Herzens, von einer beseelten Stimme so aufgenommen, daß sein stockender Puls das einzig Bleibende, Tröstende darstellt bis hinein in das Schlußbild des Ausgestoßenen, des Leiermanns, dem der Teller leer bleibt und den die Hunde anknurren.

Auch das Lauern des Bösen deckt Fischer-Dieskau in der Winterreise auf. Nicht mit einem einzelnen Wort, nicht mit dem Gefälle einer Strophe, aber mit einer flammenden Dämonie der Stimme, mit der Aggressivität der Diktion, mit der Farblosigkeit des Tons, mit der Doppelzüngigkeit der im Lied aufgebrochenen Semantik des Wortes. Auch darin schildert er nicht, genausowenig wie in der kraftvoll strömenden Kantilene oder in den Lichtpartikeln der Kopfstimme. Fischer-Dieskau weicht dem Sog des memento mori in diesen Liedern nicht aus, der Schuberts Freunde zuerst so maßlos entsetzt hat. Er verzichtet auf eine ästhetische Lösung. Wer nur den Strahlenglanz seiner einzigartigen Stimme wahrnimmt, wer nur ihre dynamische Sensibilität, ihren Reichtum an Registern, ihr bruchloses Gleiten durch alle Lagen oder die selbst in der Präsenz des Timbre spürbare Modulationsfähigkeit zur Kenntnis nimmt ohne die Schöpferkraft dieser Stimme und ihre unbedingte seelische Lauterkeit zu erkennen und den Brückenschlag, den diese Stimme in das eigene Herz hineintreibt, zu teilen, der mag fasziniert sein, aber er geht an Fischer-Dieskau vorbei.

Günther Weißenborn am Flügel lotet in seinem Spiel jede Schwingung im Gesang Fischer-Dieskaus aus. Er erreicht eine Identität und eine sprachliche Dichte, die das Lied von der Begleitung her zu prägen und auszumessen vermögen. Auch bei Weißenborn dieselbe Unumstößlichkeit des Ausdrucks, dieselbe Schlüssigkeit im Herausschälen des Wirklichen und die gleiche Energie, die Metapher zu durchstoßen wie bei Fischer-Dieskau. Ein brüderliches Miteinander ohne Prioritäten.

hdw

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