Zum Liederabend am 21. Oktober 1969 in Hamburg


Die Welt, Hamburg, 23. Oktober 1969

Dem Erleben hingegeben

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schuberts "Winterreise" in der Musikhalle

Dietrich Fischer-Dieskau ist trotz seiner zahlreichen Schallplattenerfolge der Podiumsstar geblieben, der noch in die größten Säle intime Liedkunst zu zaubern versteht. Ihn im Konzertsaal direkt zu erleben, ziehen viele Hörer dem Medienkonsum vor. Fischer-Dieskau hat keine Konkurrenz zu fürchten, vor allem, wenn er die "Winterreise" singt. Diesen "Kranz schauerlicher Lieder" (Schubert) gestaltete er nach längerer Pause zum dritten Male in Hamburg - im überfüllten großen Musikhallensaal wieder mit so unwahrscheinlich leisen Tönen, daß sogar der Ventilator störend wirkte und nach dem siebenten Lied ausgeschaltet werden mußte.

Die volle Skala der sängerischen wie darstellerischen Möglichkeiten bot Fischer-Dieskau freigiebig an. Dabei sang er die 24 Lieder ohne Pause, ließ den Schubert-Zyklus als Ganzes wirken, ohne Zugabenkonzession. Besonders fielen die ironischen Züge der "Wetterfahne", die gelungene Schlichtheit des "Lindenbaums", die Melancholie der "Einsamkeit" auf.

Die "Winterreise" ist sicherlich schwieriger und kräftezehrender als manche Opernpartie. Dennoch wirkte Fischer-Dieskau am Schluß so frisch, als könnte er den Zyklus sofort noch einmal singen. Hatte er sich zu sehr geschont? Erinnern wir uns, daß Schuberts "Winterreise" das erschütternde Geständnis eines gequälten Künstlerherzens ist. Diese Müller-Gedichte sind - anders als bei der "Schönen Müllerin" - von Schubert zur musikalischen Sprache eines individuellen, höchst subjektiven Leides umgeformt worden. Dem Sängerdarsteller gelingt der Nachvollzug nur durch schonungslose Identifikation. Diese aber brachte Fischer-Dieskau nicht gleich aufs Podium mit.

Vorbereitet in "Auf dem Flusse" und dem "Greisen Kopf" kam sie erst in den letzten vier Liedern voll zum Ausdruck, wo sie dann allerdings die Zuhörer ergriff, weil Fischer-Dieskau das Spiel mit seinen künstlerischen Möglichkeiten zugunsten verinnerlichter, ganz dem Erlebnis hingegebener Darstellung aufgab. Das war dennoch am hohen Maßstab, den Fischer-Dieskau selbst gesetzt hat, höchste künstlerische Meisterschaft. Vertrauter, stets um Pianograde besorgter Begleiter am Klavier war Günther Weißenborn.

Norbert Linke


   

     Hamburger Abendblatt, 22. Oktober 1969     

   

Drama im Lied

Fischer-Dieskau sang in der Hamburger Musikhalle

   

Eine brechend volle, bis aufs Podium besetzte große Musikhalle (und die von solcher Zuhörermenge zwangsläufig immer wieder ausgelöste und mühsam unterdrückte unruhige Spannung) machte deutlich, welch einzigartigen Ruf Dietrich Fischer-Dieskau als Liedersänger nach wie vor besitzt. Er unterstrich ihn erneut mit Schuberts "Winterreise" - mit jenem Zyklus, der wie kaum ein zweiter geeignet ist, die typischen Züge seiner Liedgestaltung widerspiegeln zu lassen.

Von Schubert selbst und von seinem Freundeskreis wissen wir, welch tiefen Eindruck diese von romantischer Selbstzerstörung und Todessehnsucht erfüllten Texte machten; und Schuberts Vertonungen stehen - von den im "Schwanengesang" zusammengefaßten Heine-Liedern und einzelnen anderen abgesehen - ohne Vergleich und vor allem ohne Beispiel da. Der von Emotionen fast zerspringende, in der Qualität durchaus unterschiedliche Text bildet denn auch die Brücke zu Fischer-Dieskaus Verständnis der Lieder: Hugo Wolf, ein Geistesverwandter jenes in der "Winterreise" charakterisierten seelisch Todwunden, steht für seine Darstellung Pate.

Wie weit Schubert selbst ihm gefolgt wäre, ist eine andere, theoretisch durchaus reizvolle Frage. Ich würde sie eher verneinend beantworten. Denn Fischer-Dieskau reißt in seiner Darstellung gerade jene Glättung im Ausdruck wieder auf, zu der die Lied-Komposition geführt hat. Die "normale" Mitte der Interpretation vermeidet er, wo immer es geht. Und hier geht es eben (fast) überall. Faszinierend, wie im uns doch so vertrauten "Lindenbaum" das verklingende "Du fändest Ruhe dort" wirklich in die ferne Vergangenheit zurückführt. Diese versunkenen, fast visionären Stellen ("Wegweiser"), auch der bewußt mit vordergründigem Elan gesungene und entlarvte "Mut" wurden immer wieder zu Höhepunkten dieses Abends des Dramas im Lied.

Um es zu gestalten, wandert Fischer-Dieskau - stimmlich in fabelhafter Form - durchweg auf dem schmalen Grat zwischen Empfindung und ausdrucksmäßiger Artistik. Und das Engagement reißt ihn gelegentlich sehr gefährlich an den Rand: Wenn er den "Stürmischen Morgen" schon mit der Körperbewegung ins Publikum schleudert, oder im "Frühlingstraum" die Zeile "Nun sitz’ ich hier alleine" mit dem dunkelgefärbten Ton eines Bühnenschurken wiedergibt. Tatsache ist, daß manches - der Schluß von "Letzte Hoffnung" diene als Beleg - durch solche konsequent erfüllte Forderung des Textes einfach in der Melodie zu schwer angelegt wird, das Schubertsche Lied zu sprengen droht, das eben - anders als bei Wolf - kein kleines Drama ist.

Aber solche Einwände machen heißt, die ganz persönliche, unvergleichliche künstlerische Position Fischer-Dieskaus erst richtig zu begreifen. Zu begreifen aber auch die überaus delikate Aufgabe, die seinem Begleiter am Flügel zufällt. In diesem Falle war es Günther Weißenborn, der sie je länger, desto überzeugender zu lösen wußte. Beifall und Blumensegen für einen ungewöhnlichen Abend.

Carl-Heinz Mann


   

     Hamburger Morgenpost, 23. Oktober 1969     

   

Auf einsamer Höhe

   

Fischer-Dieskaus Verehrer fanden nicht alle ein Unterkommen in der Großen Musikhalle. Sein Publikum verharrte bei der 90-Minuten-"Winterreise" vorbildlich mucksmäuschenstill. Ganz wie es der größte Liedersänger dieses Jahrhunderts - und das ist Fischer-Dieskau ohne jeden Zweifel - erwarten kann.

Des einzigartigen Sängers immer noch wachsender Ruhm und seine ihn offenkundig beherrschenden unantastbaren musikalischen Ideale haben ihn über die Stellung als Maßstäbe setzenden Interpreten hinausgeschoben: Er hat an "seinem" Schubert einen legitimen mitschöpferischen Anteil. Ihm ist, wie nur ganz wenigen Begnadeten, gegeben, die Menschen, die der Schlichtheit seiner Kunst teilhaftig werden, nicht nur reicher, sondern auch besser zu machen. - Sein Begleiter Günther Weissenborn atmete auf beglückende Weise auf der gleichen Wellenlänge mit Fischer-Dieskau; und diesmal (im Gegensatz zum vorletzten F.-D.-Konzert) war sogar ein "dieskautabler" Flügel bereitgestellt.

Ludwig Pollner

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