Zum Konzert am 29. Juni 1969 in München


Süddeutsche Zeitung, 1. Juli 1969 

Dramatisches Finale des Bachfestes

K. Richter dirigiert die Johannes-Passion im Herkulessaal

Frisch und tatenfroh, als sei er aus dem Urlaub zurückgekommen, dirigierte Karl Richter am letzten Abend des Münchner Bachfestes, das ihm ein neuntägiges, strapaziöses Exerzitium auferlegt hatte, eine Aufführung der Johannespassion im Herkulessaal. Der Entschluß, die Passion aus dem Museumssaal in die Residenz zu verlegen, hatte sein Gutes; der Klang war klarer, übersichtlicher und "näher", vor allem hörten auch die, denen kein Sitz in Podiumsnähe zuteil geworden war, die entrückten Klangfarben der lyrisch-meditativen Passagen, etwa das Arioso "Betrachte, meine Seel’", wo Richters Cembalo, Barbara Polaseks Laute und die Violen von Kurt-Christian Stier und Wilhelm Gerlach die balsamischen Baßtöne Kieth Engens aufs zarteste umspielten. Die Dimensionen des Museumssaales aber scheinen dem Bach-Chor allzusehr geläufig geworden zu sein; Richters vokales Präzisionsinstrument übertönte durch schneidende Fortissimoeinsätze das kleine Orchester: eine flammenzüngige Idealgemeinde, deren bekenntnishafter Gesang an den Mauern rüttelte. Glaubenseifer und Bußgeist in lapidarer, zum Äußersten entschlossener Verkündigung.

Richters Auslegung der Johannespassion hatte den dramatischen Atem und die herbe Größe wie eh und je. Die Zeitmaße wurden schier bravourös vorangetrieben; so bedurfte es der ganzen Sopranintensität und der makellosen Intonationsfähigkeit einer Edith Mathis, um mit dem Brio Richters Schritt zu halten. Nicht minder erstaunlich war Kieth Engens Presto der aufs exakteste artikulierten Baßkoloraturen. Für die Arie "Eilt, ihr angefochtenen Seelen" bot Richter kühne Kontraste auf: ein hitziges Tempo im Soloteil und einen fast manierierten Molto-Ritenuto-Effekt bei der Chorfrage "Wohin?".

Gelegentlich wird davon geredet, daß es vielleicht an der Zeit sei, an einen Nachfolger für den Oratorientenor Ernst Haefliger zu denken, wird Richters klassischer Evangelist doch demnächst ein Fünfziger. Ermutigende Kunde: Der Nachfolger ist gefunden. Er heißt Ernst Haefliger. Der Sensitivissimus unter den Tenören steht in einer neuen vokalen Blüte. Was er an Schlichtheit des Singens, an korrekter Atemführung und an unmanierierter Diktion leistete, macht ihn zu einem Bachtenor von höchstem Rang. Seine Verbindung von weichem Timbre, Intelligenz und Empfinden war das vokale Zentrum der Aufführung, was einiges heißen will, sang doch Dietrich Fischer-Dieskau die Christuspartie, und zwar in gelassener, wohlüberlegter Einfachheit, edler Artikulation, trefflicher Ausgeglichenheit der Register und messianischer Bestimmtheit. Hertha Töppers große Altarie war ganz auf Kontemplation und kunstvolle Verhaltenheit gestellt; ungemein beredt und ohne jeden spröden, kratzigen Ton klang wieder Johannes Finks Gambensolo.

Das Bachorchester, die Continuosolisten und der Organist Elmar Schloter musizierten mit der Vollkommenheit, die ihr Auftreten auch dann zu einem Bachfest macht, wenn gar kein Bachfest angesetzt ist. Rühmliche Solisten: Otto Büchner, Paul Meisen, Herbert Segl, Kurt Hausmann, Martin Spanner, Manfred Clement und Andreas Schwinn. Das Publikum zeigte genausowenig Ermüdung wie die bis zur letzten Note konzentrierten Musiker.

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K. Sch.


   

     Münchner Merkur, 1. Juli 1969     

    

Abschluß des Münchner Bach-Fests

Karl Richters Triumph: so großartig war er noch nie

    

Auch die das Bach-Fest beschließende Johannespassion im Herkulessaal zeigt Richter in Höchstform. Des Pilatus vieldeutige Frage "Was ist Wahrheit?" - in bezug auf Bach ist Richter in ihrem Besitz. Jeder früher manchmal beobachtete Manierismus (der Choraltempi, der Chorführung) ist abgelegt. In solch ergreifender Wucht, solcher bewußt unbewußten Selbstverständlichkeit, so frei von "Interpretation" hörten wir die Passion nie zuvor.

Dietrich Fischer-Dieskau verleiht der Partie des Christus etwas alttestamentarisch Eiferndes; er ist zu Anfang ein zorniger Prophet, kein resignierend Bekümmerter, eine Auffassung, die sich gut mit dem schroffen Charakter dieser Passion verträgt.

Der erfrischend jugendliche Sopran der Edith Mathis, von unverbrauchter Kraft und sehr persönlicher Färbung, gibt der Arie "Ich folge dir gleichfalls" eine unpathetische Inbrunst, die sehr wohl bestehen kann neben dem schlackenlos instrumentalen Bach, den man etwa von Antonie Fahberg hört.

Zu dem männlich ernsthaften Kieth Engen und der besonders in der Arie "Es ist vollbracht" sehr reifen, ausdrucksvollen Hertha Töpper kam als Evangelist Ernst Haefliger, der mit bewundernswertem Ebenmaß singt und dank seines leicht anspringenden Tenors, dazu seiner großen Stilerfahrung die mörderisch anstrengende Partie bis zum Schluß unermüdet und schön durchhält.

Um doch noch einen Höhepunkt herauszugreifen: die Arie mit Chor "Eilt, ihr angefochtnen Seelen". Richter befehligt die wilde Bewegung des Orchestersatzes wie ein Klangarchitekt. Alle Beteiligten sind Wachs in seiner Hand. Wenn er auf das vom Chor in verschwebendem Piano gesungene "Wohin?" nach langer Pause den Baß einsetzen läßt: "Nach Golgatha", dann klingt das wie die tröstlich schlüssige Antwort auf die Existenzfrage schlechthin.

Beate Kayser

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