Zum Liederabend am 5. Mai 1969 in Hamburg


Hamburger Abendblatt, 6. Mai 1969

Goethe mal zwölf

Liederabend Fischer-Dieskau in der Musikhalle

Dietrich Fischer-Dieskau pflegt die anspruchsvollen Programme seiner Liederabende stets einem Komponisten oder einem Thema zu widmen. Diesmal stand Goethes Lyrik in Vertonungen von zwölf Komponisten zur musikalischen Diskussion. Auf Schubert und Wolf kommt natürlich jeder Musikfreund von selbst. Der gewissenhafte Sänger machte sich noch die Mühe, seinem Publikum in einem profunden Programmheftaufsatz die getroffene Auswahl aus drei Jahrhunderten zu erläutern und einiges über Goethes Affinität zur Musik zu sagen.

Das reichhaltige und interessante Programm begann mit einem Lied der Herzogin Anna Amalia, der einige Erstvertonungen und Uraufführungen Goethescher Singspiele zu verdanken sind, und führte über nur noch historisch reizvolle Goethe-Lieder seiner Zeitgenossen Reichardt und Zelter zu gewichtigen Beispielen von Beethoven und Schubert. Im zweiten Teil, ausgehend von Schumann und Brahms, wurde der Bogen bis ins 20. Jahrhundert gespannt. Je ein Lied von Richard Strauss, Reger, Schoeck und Busoni: Welche Entdeckungen! Besonders faszinierend Regers hoch expressive "Einsamkeit" und Busonis unheimliches "Zigeunerlied" mit dem lautmalerischen Wolfsgeheul und Eulengeschrei als viermaligem Refrain.

Da zeigte sich wieder, daß Fischer-Dieskau seine künstlerische Autorität für unkonventionelle, für schwierige oder gar unpopuläre Programme einzusetzen bereit ist. Aber einen Abend mit modernen Texten, wie er ihn zum Beispiel in München oder Berlin gegeben hat, blieb er Hamburg bisher schuldig.

Seine blendende Kunst der Deklamation ist rühmlich bekannt. Er brachte es auch gestern wieder zu absoluten Höhepunkten der Liedinterpretation (beispielsweise in Schuberts "Meeres Stille", in Wolfs "Anakreons Grab") und wurde zusammen mit Günther Weissenborn, seinem bewährten Partner am Flügel, stürmisch gefeiert. Erfolgsfazit: Sechs Zugaben! Die große Musikhalle war - was nur noch selten vorkommt - bis zum Podium hinauf ausverkauft.

S. T.

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