Zum Liederabend am 23. April 1969 in Düsseldorf

Rheinische Post, Düsseldorf, 25. April 1969

Ein Piano voller Spannung und große Operngesten

Fischer-Dieskau interpretiert Lieder nach Goethe-Gedichten

Liederabende von Dietrich Fischer-Dieskau sind, wo sie auch immer stattfinden, Ereignisse geworden. Sie bieten musikalische Begegnungen, die, ähnlich wie bei Peter Pears und Gerard Souzay, eine Tradition, die man schon versunken glaubte, zu blühender Aktualität erwachen lassen. Es durfte somit niemanden wundern, daß die Rheinhalle an diesem Abend, dem vorletzten Meisterkonzert der zu Ende gehenden Konzertsaison, ausverkauft war.

"Lieder nach Gedichten von Goethe", lautete das Thema des Abends, und Fischer-Dieskau führte seine große Hörergemeinde durch die Geschichte des deutschen Kunstliedes von der Zeit des klassischen Singspiels bis an die Schwelle der Moderne des 20. Jahrhunderts. Zwangsläufig verbirgt sich hinter einer solchen Einheit der Thematik eine ungeheure Vielfalt des Programms, die auch krasse Qualitätsunterschiede erkennen läßt. Von der biederhöfischen Hausmusik - ein Lied der Herzogin Anna Amalia - über Meisterwerke von Schubert und Wolf bis zum wirkungssicheren Zigeunerlied Busonis reichte der Bogen von Goethe in Noten. Manche Noten, wie die von Reichardt oder Zelter, litten unter der Last zu großen interpretatorischen Aufwands, und Fischer-Dieskau ließ überraschend oft die musikalische Gestik der Oper in seine Darstellung einfließen.

Zum Schönsten gehörten die Liedfolgen von Schubert und Wolf. Die lyrische wie dramatische Intensität des Nachempfindens erwuchs hier ("An Schwager Kronos" von Schubert oder "Anakreons Grab" von Wolf) wieder rein aus der musikalisch-poetischen Substanz des jeweiligen Liedes; faszinierend die dynamische Spannung eines Pianos in "Meeresstille", getragen von größter sängerischer Kultur. Dagegen geriet der "Erlkönig" wieder in die Gefahrenzone einer musikalisch etwas überdosierten Regie,

Großartig verstand in dieser letztlich bunten Folge der Pianist Günther Weißenborn auf jede Eigenart der einzelnen Lieder und die Ausdrucksnuancen des Sängers einzugehen. Keinen Augenblick unterlag dieses Klavierspiel der Routine; die Selbstverständlichkeit und Versiertheit instrumentaler Partnerschaft ist hier ebenso von den Kräften sensibelsten Abwägens aller Werte wie von der Vitalität improvisatorischen Zugriffs durchpulst.

Mit vielen Beispielen von Brahms, Strauss, Reger und Othmar Schoeck begeisterte Fischer-Dieskau seine Hörer und beschloß den Abend mit dem Wolf-Lied "Ich bin der wohlbekannte Sänger, der vielgereiste Rattenfänger, den diese altberühmte Stadt gewiß besonders nötig hat."

H. J. Münstermann


    

     Düsseldorfer Nachrichten, 25. April 1969     

    

Beifall und Zweifel

Fischer-Dieskau sang Goethe-Lieder in der Rheinhalle

    

Auch die nicht gerade reißerische Ankündigung eines Liederabends nach Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe vermochte der Anziehungskraft des Baritons Dietrich Fischer-Dieskau in Düsseldorf keinen Abbruch zu tun. Die Rheinhalle war wieder fast bis auf den letzten Platz besetzt, und das bei "großer Bestuhlung", die bei keinem städtischen Sinfoniekonzert auszufüllen ist. Dabei nimmt die Begeisterung für den ewigen Jüngling Fischer-Dieskau allmählich seltsame Formen an. Viele Damen betrachten ihn unentwegt durch das Opernglas, bei der Steh-Ovation am Schluß zucken die Blitzlichter wie bei einem Schau-Ereignis, und selbst während des Konzerts durfte jemand ungestraft die immer noch geltenden Gesetze des seriösen Konzerts blitzend durchbrechen. Für viele scheint der berühmte Sänger in erster Linie ein visuelles Phänomen geworden zu sein.

Das Konzert war - wie immer - zwiespältig. Diesmal von vornherein dadurch, daß es natürlich leichter ist, ein Stil-Programm nach einem Musiker zu bilden als nach einem Text-Dichter. Ein Schubert-, ein Wolf-Abend hat seine Gesetzmäßigkeit in sich, ein Liederabend mit Goethe-Texten ist zwangsläufig disparat, vor allem wenn man wie Fischer-Dieskau nach einem geradezu wissenschaftlichen Plan arbeitet und sogar eine Komposition der braven Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar, der Mutter des Großherzogs Carl-August (1739-1807) einbezieht. Die übliche Kollektion wirklich wertvoller Goethe-Vertonungen wird auch verlassen durch die herzlich unbedeutenden Beiträge von Schumann und Brahms zum Thema, während andererseits die Lieder aus neuerer Zeit von Othmar Schoeck ("Dämmerung senkte sich von oben") und Busoni ("Zigeunerlied") eine willkommene Bereicherung des Bildes bewirkten. Den Abschluß des Programms bot eine Gruppe der herrlichsten Goethe-Vertonungen von Hugo Wolf mit dem von Fischer-Dieskau unnachahmlich gestalteten "Rattenfänger" als Abschluß, aber auch dabei wurde man irritiert durch die Aufnahme des Liedes "Frühling übers Jahr", dessen entwaffnende textliche und musikalische Harmlosigkeit uns hartgeprüfte Zeitgenossen denn doch ein wenig erstaunt.

Was soll man im übrigen zur Gesangskunst Dietrich Fischer-Dieskaus nach so viel Elogen (und kritischen Zweifeln) noch sagen? Eine Entwicklung ist bei der Stimme und in der Gestaltungsweise eigentlich seit Jahr und Tag nicht festzustellen. Höchstens könnte man anmerken, daß diesmal das Baßregister ganz besonders samtig und rund klang.

Unüberbietbarer Höhepunkt war für den Rezensenten Franz Schuberts "An den Mond". Fischer-Dieskau sang das Lied ganz schlicht, in einem strömenden, herzerwärmenden, weichen Legato bei großer Deutlichkeit der Deklamation, mit kleinen Erhebungen und Senkungen der Stimme, die den Gehalt vollendet hervorhoben. Daneben, als Beispiel eines dramatisch-deklamatorischen Liedes "An Schwager Kronos", mächtig, wie atemlos, in wirklich gigantischem Aufriß gezeichnet. Nicht minder hinreißend als Legato-Lied "Meeresstille" und als balladeske Form der Schubertsche "Erlkönig".

Aber auch die alten Einwände wurden genährt. Wie kann man aus Beethovens "Neue Liebe, neues Leben" ein solches Drama machen, wie kann man die Stelle "... und an diesem Zauberfädchen, das sich nicht zerreißen läßt", mit einem solch sinnlosen Crescendo beladen! Mancher Harmlosigkeit versuchte Fischer-Dieskau an diesem Abend ein Gewicht zu geben, das nicht vorhanden ist, allzuoft verließ er die Legato-Linie und verfiel in ein überscharfes, "offenes" Deklamieren. Busonis "Zigeunerlied" wurde vollends zum Melodram, bei dem die melodische Linie nicht mehr zu erkennen war. Aber das alles gehört halt zum großen Künstler Fischer-Dieskau, niemand wird ihn ändern, der Zuneigung und Verehrung seines Publikums ist er sich gewiß. Behalten wir das überwältigend Schöne, das vollendet Geistreiche, Witzige und Durchgeformte von diesem Abend im Gedächtnis!

Alfons Neukirchen

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