Zum Konzert am 13. Dezember 1968 in München


Süddeutsche Zeitung, 15. Dezember 1968

Die Musica Viva gedenkt ihres Gründers

Rafael Kubelik dirigiert, Dietrich Fischer-Dieskau singt Karl Amadeus Hartmann

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Grandioses Mittelstück des Gedenkkonzerts: Hartmanns letztes Werk, vor dessen Vollendung er gestorben ist, die Gesangsszene für Bariton und Orchester zu Worten aus Giraudoux’ Schauspiel "Sodom und Gomorrha", die in unheimlich suggestiven Klangschauern aufsteigende Vision eines heraufziehenden Weltuntergangs, der Vernichtung einer zivilisatorisch perfekt und steril gewordenen Menschheit. (Es ist die dritte musikalische Prophetie eines Weltendes in diesem Jahrhundert, nach der Sechsten Symphonie Mahlers und den Drei Orchesterstücken op. 6 von Alban Berg, und alles deutet darauf hin, daß sie wieder nicht gehört wird.) Wer anders vermag diese Prophetie so auf den Ton einer apokalyptischen "Conférence" einzustimmen wie Dietrich Fischer-Dieskau, mit solch überlegener Intelligenz die bei aller Bildhaftigkeit doch irgendwie "ästhetisch" distanziert Poesie des Textes mit der in der Musik vibrierenden dramatischen Erregtheit eines modernen Requiems so zu verschmelzen wie er? Eine faszinierende, exemplarische Leistung - welch dringlichere Aufgabe könnte sich der gerade ins Leben gerufenen Karl-Amadeus-Hartmann-Gesellschaft stellen, als dafür zu sorgen, daß diese großartige Dokumentation kompositorischer, sängerischer und dirigentischer Gestaltungskraft alsbald auf der Schallplatte zu hören sein wird -, wenn schon die einschlägige Industrie nicht von selbst auf den Gedanken kommt, sie zu produzieren?

K. H. Ruppel


   

     Münchner Merkur, 15. Dezember 1968     

   

"In jedes Vogellied hat ein grauenhafter Ton sich eingeschlichen"

Musica Viva: Dietrich Fischer-Dieskau im Gedächtniskonzert für Karl Amadeus Hartmann

   

Dem Gedenken des vor fünf Jahren gestorbenen Karl Amadeus Hartmann widmete die Musica Viva ihren zweiten Abend (Herkulessaal). Programm: die nachgelassene Gesangsszene "Sodom und Gomorrha", die vierte und sechste Symphonie. Der Abend war nicht nur Hartmann gewidmet, sondern hatte, vom Publikum enthusiastisch aufgenommen, auch das typische Hartmannsche Musica-Viva-Fluidum.

Mit einer Theatergeste von barocker Festlichkeit eröffnet Giraudoux sein Schauspiel "Sodom und Gomorrha": "Das ist der schönste Spielbeginn, den die Zuschauer je erlebt haben! Der Vorhang hebt sich, und vor ihren Augen steht der Oberste der Erzengel." Giraudoux wahrt auch hier noch den elegant verspielten Ton, aber was er folgen läßt, ist grauenvoll, die gnadenlose Zerstörung einer sündig gewordenen Welt, deren größte Sünde der Verfall der Liebe ist, speziell der Liebe zwischen Mann und Frau.

Bei aller Distanziertheit ist Giraudoux in diesem Spätwerk merkwürdig engagiert - sicher nicht ohne Grund trägt die männliche Hauptfigur seinen eigenen Namen Jean. In diesem dunkel pessimistischen Stück gewährt nicht einmal der Tod einen Hoffnungsschimmer. "Der Tod hat nicht genügt. Das Spiel geht weiter", heißt es zum Schluß. Das Grauen wird sich wiederholen.

Karl Amadeus Hartmann fügte aus den Dialogen des Vorspiels und der zweiten Szene seine monologische "Gesangsszene", in der, befreit von allem psychologisch entlarvenden Rankenwerk, nur das apokalyptische Ende geschildert ist. "In jedes Vogellied hat ein grauenhafter Ton sich eingeschlichen", an diese Textzeile Giraudoux’ knüpft Hartmann mit seinem einleitenden, zart verhaltenen und doch bis zum Zerspringen expressiv geladenen Flötensolo an.

Hartmann wehrt sich, seinen eigenen Untergang als Schauspiel hinzunehmen; seine Reaktion ist ein einziges Entsetzen, ein Aufbegehren gegen das Ungeheuerliche. Er arbeitet mit allen Mitteln eines großen symphonischen Orchesters, vom süßen Ornament eines Solobläsers bis zum wütenden, unerbittlichen Stampfen der Vernichtung, vom zartesten dreifachen Pianissimo bis zum vollen Orchesterfuror.

In dieses verschwenderisch reiche Klanggewebe ist die Singstimme förmlich eingebettet, wobei die natürliche Kadenz des gesprochenen Wortes im gesungenen bewahrt bleibt. Und die gesungenen, vergleichsweise freigestalteten Partien bilden das zwanglose Bindeglied zwischen den reinen und quasi-symphonischen Orchesterteilen, die ihrerseits dem Text und seiner Aussage zuvorkommen, was dem ganzen etwas von der beabsichtigten Unausweichlichkeit gibt.

Eine bessere Wiedergabe als unter Rafael Kubelik mit Fischer-Dieskau als Solisten läßt sich nicht vorstellen. Kubelik gliedert überzeugend die kolossalen Quader des Werkes, lädt den Klang mit glühender Intensität, entfesselt mit explosiver Energie die zischenden und stampfenden Rhythmen.

Und geradezu singulär die Interpretation Fischer-Dieskaus, die von kraftvoll drängendem Temperament und glasklarer geistiger Bewußtheit gleichermaßen gespeist wird, sich von der Wucht des Textes und der Musik fortreißen läßt, ohne auch nur ein einziges Mal die intellektuelle Steuerung zu lockern. Der Reichtum an Nuancen, die Vielfalt der Färbungen scheint unerschöpflich. Da trifft Fischer-Dieskau eine klangvolle Fahlheit, wenn er vom grauenhaften Ton, "dem tiefsten Ton aller Oktaven, dem des Todes" singt, erhält seine Stimme schneidende Schärfe beim "siedenden Pech", dann wieder erzene Gewalt oder beißende Ironie ("Insekten").

Fischer-Dieskau ist wohl der einzige Sänger, der, ohne an Intensität einzubüßen, in den Sprechton wechseln kann. Es ist "ein" Ende der Welt, betont er zum Schluß mit Bedacht, damit die bei Giraudoux (aber nicht bei Hartmann) angedeutete Wiederkehr allen Grauens andeutend.

Nur registriert seien die Wiedergaben der vierten und sechsten Symphonie durch die exzellenten Streicher, Bläser und Schlagzeuger des Rundfunkorchesters, auch hier mit leidenschaftlicher Hingabe dirigiert von Kubelik.

Helmut Schmidt-Garre


   

     Abendzeitung, München, 14. Dezember 1968     

    

Angestammte Meisterschaft

Zweites Konzert der Musica Viva im Herkulessaal, dirigiert von Rafael Kubelik. Werke von Karl Amadeus Hartmann. Solist: Dietrich Fischer-Dieskau.

   

Als der Geist zum Apostel Johannes von jenen sprach, denen ihre Werke nachfolgen, wenn sie von ihrer Arbeit ruhen, kann er nicht die Künstler gemeint haben, denn es ist das schlimmste, was toten Künstlern passieren kann, wenn ihnen die Werke nachfolgen. Diese sollen im Gegenteil hier bleiben und sich immer weiter verbreiten.

Jedenfalls sind Karl Amadeus Hartmanns Werke ihm nicht gefolgt, als er sich vor fünf Jahren viel zu vorzeitig zur Ruhe legte. Sie sind mitten unter uns.

Das zweite Musica Viva Konzert brachte die vierte und sechste Symphonie Hartmanns, zwischen denen die Gesangsszene für Bariton und Orchester zu Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux stand. Dieses Werk ist 1963, im Todesjahr Hartmanns komponiert worden und man glaubte, daß die letzten beiden Sätze der Dichtung nicht mehr vertont werden konnten, bis man erkannte, daß es Hartmanns Absicht war.

Er betrat mit diesem Stück mit angestammter Meisterschaft und seiner gewaltigen Ausdruckskraft ein Gebiet der Musik, auf dem Avantgardisten meist ratlos herumtrippeln.

Fischer-Dieskau, der den Solopart bereits bei der Uraufführung gesungen hatte, sang und gestaltete ihn mit der Urkraft eines alttestamentarischen Propheten.

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Mingotti

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