Zum Konzert am 11. April 1968 in Salzburg

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Datum unbekannt  

Dreimal Karajan in Salzburg

"Walküre", Beethovenkonzert, Deutsches Requiem

[…]

Erst mit dem Deutschen Requiem von Brahms kam der religiöse Sinn der Osterfestspiele zu seinem Recht. Sein überkonfessioneller Charakter versinnbildlichte zudem etwas von dem geistigen Programm, das Karajan 1967 in der Kombination von "Walküre" und Missa Solemnis erkennen ließ. Weltbürgerlichkeit und Ökumene gehören so sicher zusammen wie hohe symphonische Künste, mögen sie nun dem Theater, dem Konzertsaal oder der Kirche dienen. Salzburg als der weltlich-sinnenfrohe Sitz geistlicher Macht darf solche Botschaft wohl verkünden.

Die Totenmesse auf biblische Lutherworte betont mehr als das konventionelle lateinische Requiem die Gedanken von Trost und Auferstehung. Eben das weist ihr den würdigen Platz in der Karwoche zu. Seit der Uraufführung im Bremer Dom ist ein Jahrhundert vergangen; damals stand ein Händelsches Sopransolo zwischen den nur sechs Sätzen. Das nachkomponierte "Ihr habt nun Traurigkeit" für Sopran und Chor ist ein Kernstück des Werkes geworden, ein tröstender Lichtblick inmitten der Trauer, musikalisch durch die helle Frauenstimme eindringlich gekennzeichnet. Gundula Janowitz gab dem Solo eine berückende Verbindung von instrumentaler Linie und ergreifender Gefühlsintensität. Ich glaube nicht zu irren, daß im Text des Anfangs eine kleine Korrektur stattfand: das Wort "nun" war, offenbar zum Vorteil der melodischen Führung der Stimme, ausgelassen. Freiheiten dieser Art sind in der Oper seit jeher gebräuchlich. Dienen sie dem Werk und seiner Wiedergabe, so muß man sie ebenso billigen wie z.B. Wagners Retuschen in der Partitur von Beethovens Neunter.

Die beiden Baritonsoli waren Dietrich Fischer-Dieskau anvertraut. Man hat sie oft von ihm gehört, und jedesmal wieder spürt man die Gewalt durch, die der Text auf diesen denkenden und fühlenden Sänger ausübt. Eine großartige Leistung, sogar in den dramatischen Akzenten, die er dem Bild der letzten Posaune aufsetzt.

Auch dieses Jahr hatte Karajan den Wiener Singverein für die Chorpartien verpflichtet. Merkwürdig, wie sich Traditionen bei Musiker-Gruppen erhalten. Diese Wiener Sänger vermitteln den Geist des Deutschen Requiems überzeugender als jeder andere Chor. Sie singen die schweren Allegro-Teile wie die große Fuge mit natürlicher Sicherheit und Stimmenfülle. Dabei waren die Gewichte durch viel stärkere Besetzung der Frauenstimmen auffallend ungleich verteilt. Die Soprane klangen in den hohen Lagen bisweilen etwas gedrückt.

Wie Karajan mit Singstimmen atmet, lebt, mitempfindet, das konnte man bei dieser stablos dirigierten Aufführung ad oculos demonstriert sehen. Seine modellierenden Hände scheinen die Sänger in eine Trance zu versetzen, die ihre Leistung über alles gewohnte Maß steigert.

Und abermals bewunderte man West-Berlins Philharmoniker, ihre vollendet homogenen Bläser, die Kantilene ihrer Streicher mit den alternierenden Konzertmeistern Schwalbé und Spierer, die präzise Kraft ihres Kontrabaß-Oktetts, die Meisterschaft des Paukenisten Werner Thärichen.

Zum zweitenmal sind die Salzburger Kar-Aufführungen ein bedeutender künstlerischer Erfolg geworden. Daß sie nebenher noch gesellschaftliche Ereignisse sind, Tummelplätze des Adels, des internationalen Snobismus und sogar der Haute Couture, besagt gar nichts angesichts der geistigen, organisatorischen und physischen Leistung. Für sie gebührt Herbert von Karajan als ihrem Protagonisten die höchste Bewunderung.

H. H. Stuckenschmidt


     Salzburger Nachrichten, 13. April 1968     

Tod, wo ist dein Stachel?

"Ein Deutsches Requiem" unter Herbert von Karajan –
Die Aufführung zu den Osterfestspielen

    

Am Karfreitag waren es gerade hundert Jahre, seit im Bremer Dom dieses Werk des jüngeren Brahms – er war noch nicht fünfunddreißig – in vollendeter Gestalt uraufgeführt worden ist. Am Gründonnerstag hörten wir es zu den Osterfestspielen in Salzburg. Was gäbe man darum, den Vergleich im Ohr zu haben, wie eine Aufführung dazumal geklungen hat. An einer so berühmten Schöpfung der Musikkultur die Spuren der Arbeit abzulesen, welche Generationen Nachfolgender und Erlebender an sie verwendet haben, wäre selbst eine Erfahrung des Trostes über alle Vergänglichkeit hin: Denn so setzt das Genie sich fort. Und in Zeiten, die nicht nebeneinander einen Brahms, einen Bruckner, Hugo Wolf, Anton Dvorak, einen Richard Wagner und, am entgegengesetzten Ufer stromabwärts, schon einen Debussy erstehen lassen, ist das interpretatorische Genie die andere große Amplitude des Pendels zwischen den Zeiten. Darum nicht zuletzt gab es für uns, so verschieden oder konträr sie dachten und fühlten, nachschöpferische Meister wie Toscanini, Kleiber, Bruno Walter, Wilhelm Furtwängler… Darum gibt es Herbert von Karajan. Wir leben fort, die Handbreit Leben, die uns zukommt, und die Späteren werden die Werke sehen, die uns nachfolgen, wie es in der Offenbarung heißt, und wie Brahms den Chor seines Requiems schließen läßt.

Wer kann voraussagen, wie die musikalische Interpretation, hineingerissen in nie dagewesene Forderungen der Pluralität anstatt der Vertiefung, des Verbrauchs an Stelle des Vollzugs, mit den Jahrzehnten weiterschreiten wird? Eines glauben wir, was diese Karajansche Wiedergabe betrifft, sie darf für das "Deutsche Requiem" zeugnishaft den Stand einer sehr bedeutenden Werkkultur unserer Tage überliefern, mehr als manche andere unter den vielen interessanten Werkauffassungen desselben Dirigenten.

Will man genau sagen, woher das rührt, daß Karajan diese Komposition, die er seit jeher besonders glücklich vertreten hat, heute schlechthin überzeugend darzubieten vermag, muß man zunächst wohl ein Zugeständnis an den Zeitgeschmack machen. Es ist die dem 19. Jahrhundert eigentlich sacht entrückte, um vieles ausgeglichenere "Klangfolie" unseres Musizierens und Chorsingens, zu deren Ausprägung im internationalen Stilempfinden kaum jemand mehr als Karajan selbst beigetragen hat. Am entschiedensten setzt sich von dieser Entwicklung als Gegenbeispiel einer bewußt gepflegten, man könnte sagen, vitalistischen Richtung – allerdings vor allem bei Bach – der Weg des Münchner Dirigenten und Chorführers Karl Richter ab. Es ist gut, daß es diese beiden starken Profile in solcher Nachbarschaft gibt. Was aber nun für Karajans Brahms-Auffassung im "Requiem" gilt: Sie hat im Laufe der Zeit nicht etwa nur an der Oberfläche ihren Glanz vermehrt, es wird uns klar, daß da in den letzten elf Jahren, seit wir es zum letztenmal unter seiner Leitung gehört haben, damals in der Felsenreitschule, der Grundhaltung eines eher klassizistischen Weltgefühls nun ein durchaus unmittelbares, von lebendiger Sinnhaftigkeit bestimmtes Werkverständnis zugewachsen ist. Karajans Interpretation hat sich im wesentlichen nicht gewandelt, aber sie hat ihr Lot gewichtiger gemacht. Während die Einheit der sieben Teile, der stimmungshaft lyrischen und der oratorischen, vollkommen erscheint, erhält zugleich die Deklamation mehr Ausprägung, führt den Zuhörer näher zum geistigen Gehalt hin, ja, es geschieht mit diesem Werk eine Begegnung, deren sich eine Schicht des festlichen Publikums wohl kaum je entsinnen konnte.

Schon in dem der zeitlosen Anonymität verhafteten, langsam aufsteigenden ersten Chor "Selig sind, die Leid tragen", erhebt sich ein großer Bogen, der zur letzten Wiederholung des Themas zeichenhafte Deutlichkeit über den inneren Anspruch des Werkes ausbreitet. Die orchestrale Deklamation unterstützt diesen gehalthaften Ausdruck der Wiedergabe, ohne jemals die Gewichte willkürlich zu verschieben. Da ist kein Effekt, der übertrieben oder fraglich wäre. Die dramatische Steigerung aus dem Bariton-Solo zum Chor-Stakkato, "zu der Zeit der letzten Posaune", wirkt ebenso konsequent in ihrem Formsinn wie der gezügelte Atem im Paukenschritt und das fahle Licht des Klanges, unter dem "das Gras verdorrt". Die strenge Ordnung der Tempi verleiht um so mehr dem einen großen Durchbruch in der Schlußfuge des sechsten Satzes, "Tod, wo ist dein Stachel?" überwältigende Dynamik. Der Ring schließt sich mit der Seligpreisung der Toten, die in Karajans Wiedergabe so wie am Beginn der Trost an die Leidenden von der Aussage her ergreifend betont wird. Der Wohlklang macht seine Tiefe offenbar. Gleiches gilt wörtlich als ein Lob auf den idealen Sologesang von Gundula Janowitz, deren schwebender, glockenreiner Sopran die Hoffnung nicht allein, sondern die Schönheit gegen die Traurigkeit siegen läßt. Ihre musikalische Phrasierung hält sich mit dem Ausdruck völlig die Waage, der Text tritt etwas hinter dem belkantistischen Anspruch zurück. Die Baritonsoli von Dietrich Fischer-Dieskau sind ein Beispiel für den Liedgesang des großen Künstlers; voll sensibler Ausdeutung, die musikalische Linie vom Text her gegliedert und bis ins kleinste durchakzentuiert, deshalb aber, in dem zweiten Stück ("Siehe, ich sage euch ein Geheimnis"), dem oratorienhaften Zuge eher abgewandt. Unsere Erinnerung an den Sänger vor elf Jahren, in denselben Soli unter Karajan in Salzburg, scheint uns mehr bestimmt durch eine elementare gesangliche Gestaltung, die ereignishaft wirkte.

Das Spiel der Berliner Philharmoniker und die chorische Ausführung durch den Wiener Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde dienten dem Dirigenten als zwei durchaus gleichrangige Instrumente von höchster Vortragskunst, die sich im Klang ebenso klar konturieren wie verschmelzen ließen ("Wie lieblich sind deine Wohnungen" gemahnte im Wohllaut an die elysäische Sphäre bei Gluck.)

Nach diesen Eindrücken war dem zum Schweigen verhaltenen Publikum ein Kraftakt gegen seine Begeisterung abverlangt, als es sich ohne Beifall von den Sitzen erhob. So wurde das Festspiel zur Feier.

Max Kaindl-Hönig


     Münchner Merkur, 13. April 1968     

"Hojotoho" und "Selig sind die Toten"

Kontrast bei Karajans Salzburger Osterfestspielen:
"Requiem" und "Walküre"

[…]

Was Karajan betrifft, so nimmt er sich der Musik, die er aufgreift, immer ganz an und zwingt ihr seinen Stil auf. Das Streben nach Entpathetisierung ist deutlich. Die Suche nach Tiefendeutung äußerte sich heuer besonders stark. Und der Dirigent braucht wohl auch einmal einen Tag der inneren Ruhe, wie ihn das Deutsche Requiem von Brahms bietet.

Hier zeigte sich Karajan als Chordirigent von souveräner Beherrschung des vokalen Aufgebots (Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Einstudierung Helmuth Froschauer). Karajan dirigierte nur mit ruhigen Bewegungen, er hebt den Chorklang ins Schwebende, wenn er die Hände (ohne Taktstock) in einer hohen Schwebe hält. So wurde es ein feierliches, aber von keinem Pathos überladenes Deutsches Requiem, streng in den kontrapunktischen Teilen, im ganzen auf den trostvollen Schlußsatz abgestimmt: "Selig sind die Toten", den Karajan besonders ruhig nahm.

Daß die Soprane manchmal detonierten, nahm man bei dem sonst schönen Chorklang hin. Freilich hatte der Chor in den blendend disponierten Berliner Philharmonikern einen ebenbürtigen instrumentalen Partner. Das gefährliche Sopransolo sang Gundula Janowitz, sicher in der Höhe (etwas mehr sphärische Transparenz vermißte man). Dietrich Fischer-Dieskau hatte seine besten Momente in den prophetisch-dramatischen Stellen.

[…]

Ludwig Wismeyer


     Nord-Stuttgarter Rundschau, 18. April 1968     

... und wir werden verwandelt werden

Karajans Osterfestspiele

Der Osterverkehr umbrandete Salzburg, brandete in die Stadt hinein, unter einer makellos blauen Himmelsglocke trotz allem Lärm ein Bild des blühenden Frühlings und eine Verheißung des Friedens. So gewann der Beitrag von Karajans Osterfestspielen zum Karsamstag in einem Programm, das ganz auf deutsche Komponisten abgestellt ist und mit Wagners "Ring" auch die germanisch-heidnische Komponente einbezieht, durch eine exemplarische Aufführung des Oratoriums "Ein Deutsches Requiem" von Johannes Brahms symbolischen Charakter. Von den Texten - "nach Worten der Heiligen Schrift" - und Choralübernahmen her ist es eigentlich ein protestantisches Werk, das sich in die neuen, die Konfessionen überspannenden Bewegungen und Maßnahmen, gerade der katholischen Kirche, einfügt. Man kann von dem Dirigenten halten, was man will, diese Interpretation ist nur in wenigen Momenten ein wenig von Vollendung entfernt. Er nahm der Bekenntnis-Komposition, genau 100 Jahre nach der Uraufführung der sechssätzigen Fassung unter Leitung des Komponisten im Dom zu Bremen und knapp 99 Jahre vor der Uraufführung der jetzt gebotenen siebensätzigen, endgültigen Gestalt im Gewandhaus zu Leipzig alles, was nur entfernt an Deutschtümelei des 19. Jahrhunderts erinnern könnte. Um so mehr gewann die seit Jahren erarbeitete Wiedergabe an Tiefendimension, Nuancen, Beseelung und Natürlichkeit, ohne daß durch die kammermusikalische Aufschlüsselung des gewaltigen Apparats der Mitwirkungen die große Linienführung etwas eingebüßt hätte. Geist und Wort und Musikerfüllung sind hier eins. Und zur Einheit führt der Dirigent mit sehr genauer Zeichengebung, die zugleich für den Zuhörer und Zuschauer sparsam bleibt, seine Interpreten der bewährten Berlin-Wiener Zusammenarbeit. Das Berliner Philharmonische Orchester erreichte eine selbstverständliche Verbindung von Präzision und Klangabstufung, die ihm trotz aller Perfektion von "Konkurrenzunternehmungen" kein anderer Klangkörper nachmacht. Diese Musiker sind mit dem Dirigenten eins, und sie sind auch vorzüglich abgestimmt mit dem herrlich in den Stimmgruppen ausgewogenen Chor des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Ein kleiner Vorbehalt sei nur angemeldet gegen eine Entgleisung der Soprane im zweiten Satz, der von der wunderbaren Spannung zwischen volksliedhaft innigen und feierlich "marschmäßigen" Passagen getragen ist.

Gundula Janowitz, in violetter Samtrobe, auch farblich eingestimmt in das Bild der Mitwirkenden und der Instrumente aus Schwarz, Braun und Messing, erfüllt mit dem hellen Edelmetall ihrer nur für Momente an den Rand ihrer Möglichkeiten geratenden und da und dort die Ansatzsilben vernachlässigenden Stimme das Sopransolo, die Botschaft der Tröstung, den Sieg über die "Traurigkeit" im fünften Satz. Und Dietrich Fischer-Dieskau, mit dem Karajan schon vor 11 Jahren das Deutsche Requiem in der Felsenreitschule brachte, beherrscht das große Festspielhaus mit dem Baß-Part des dritten und dem Bariton-Part des sechsten Satzes. Bei ihm ist das Wort ganz da, geisterfüllt und in bewußter, aber nie den Klanggehalt störender, sehr innerlicher Deklamation, die sich nur einmal, und das richtig, zu dröhnendem und mahnendem Pathos erhebt in der Verkündigung des Jüngsten Gerichts: "Denn es wird die Posaune schallen / und die Toten werden auferstehen / unverweslich, / und wir werden verwandelt werden."

Der Dirigent wehrte sofort aufkommende Beifallsdetonationen ab. Das Publikum war entlassen in den Osterabend, die Auferstehungsfeiern und das Dröhnen der Glocken aus ihrer Verstummung heraus.

Ernst Schremmer


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