Zum Konzert am 20. November 1966 in Hamburg


Hamburger Abendblatt, 22. November 1966  

Ein Werk im Geiste der Versöhnung

Brittens "War Requiem" in der Musikhalle

Benjamin Brittens War Requiem ist mehr als eine Totenmesse für die Gefallenen: Es ist ein Anti-Kriegs-Requiem, das den Geist der Versöhnung in sich trägt. Äußerer Anlaß: die Einweihung der im letzten Krieg von deutschen Bomben zerstörten, 1962 neben der Ruine wiederaufgebauten St.-Michaelis-Kathedrale von Coventry.

Es war Brittens ausdrücklicher Wunsch, die drei Solopartien mit Künstlern verschiedener Nationalität zu besetzen, mit der russischen Sopranistin Galina Wischnewskaja, dem englischen Tenor Peter Pears und dem deutschen Bariton Dietrich Fischer-Dieskau (so zu hören auf der hervorragenden Decca-Schallplattenaufnahme von 1963 unter Leitung des Komponisten). Dem Hamburger Publikum, das das War Requiem erstmals vor drei Jahren in einer Aufführung des NDR kennenlernte, konnte Wolfgang Sawallisch nun im 4. Philharmonischen Konzert das Solistenterzett der Uraufführung – Heather Harper, Pears, Fischer-Dieskau – vorstellen, das man wohl als einzigartig bezeichnen darf. Alle drei in der Empfindung und im künstlerischen Ausdruck so intensiv wie überwältigend: die leidenschaftlich bewegten Sopransoli, der ergreifende Wechselgesang zwischen Tenor und Bariton, die den englischen und den deutschen Soldaten verkörpern.

Die erregende, aktuelle Wirkung dieses Requiems beruht ja in erster Linie auf der gegenwartsbezogenen aggressiven Direktheit seiner Texte. Britten stellt der traditionellen sechsteiligen lateinischen Liturgie neun aufbegehrende, bittere Antikriegsgedichte des 25jährigen englischen Dichters Wilfred Owen (gefallen im ersten Weltkrieg) gegenüber. Aus der Spannung und Durchdringung der beiden Welten entsteht nicht nur in der musikalischen Gestaltung eine neue künstlerische Einheit, sondern eine höhere Einsicht aus dem Geist der Humanität.

Mit dem expressiven Klang der Philharmoniker (aufgeteilt in großes Orchester und Kammerorchester) konkurrierten in wahrhaft dramatischer und imponierender Leistung die Chöre der Hamburger Singakademie und der Musikhochschule, der Kinderchor des NDR und der Knabenchor des Gymnasiums Eppendorf. Wolfgang Sawallisch erreichte mit dem Riesenapparat eine exemplarische Wiedergabe von eminenter Spannung und hymnischer Kraft. Der Vergleich mit der Schallplatte (aufgenommen in der Kingsway Hall, London) wie mit der ersten Hamburger Aufführung in der Michaeliskirche begründet den kritischen Einwand gegenüber dem Ort der Aufführung. Die beengten räumlichen Möglichkeiten und die harte Akustik der Musikhalle gestatteten es nicht, auch die kühnen Raumklangwirkungen dieses doch für den hallenden Kirchenraum komponierten Werkes einzubeziehen.

S. T.

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