Zum Liederabend am 20. Mai 1966 in Zürich


    

     Neue Züricher Zeitung, 26. Mai 1966     

Zürcher Konzerte

Beethoven-Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

     

Der Konzertgeber hatte, wie aus einer Notiz im Programm der Veranstaltung vom 20. Mai (Grosser Tonhallesaal) hervorging, die Absicht, Beethoven, der vom großen Publikum vor allem als Schöpfer von Instrumentalwerken, der Oper "Fidelio" und der "Missa solemnis" verehrt wird, auch als Liederkomponisten gebührend zur Geltung zu bringen. Daß ihm, mit Hilfe seines vorzüglichen Klavierbegleiters Günther Weißenborn, dies in seinem jüngsten Zürcher Liederabend ohne demonstrative Hervorhebung der pädagogischen Absicht mit rein künstlerischen Mitteln restlos überzeugend gelang, darf als höchstes allgemeines Lob gelten, dem zu jeder einzelnen Nummer des tief durchdacht aufgebauten Programms Aeußerungen des begeisterten Entzückens hinzuzufügen wären. Wir müssen uns hier mit knappen Hinweisen auf einige Stellen, die uns besonders bemerkenswert erschienen, begnügen: etwa auf die Ausführung der Figurationen im Larghetto von "An die Hoffnung", in denen jeder Sechzehntelwert seinen besonderen Ausdruck erhielt, auf die kunstvolle Variation der ersten Adagio-Melodie im zweiten Teil des "Bußliedes"; auf die sich von aller Theatralik fernhaltende latente Dramatik in dem Zyklus "An die ferne Geliebte"; auf die bezaubernde Abwandlung der rhythmischen Grundfigur in "Der Wachtelschlag"; auf die eindringliche Hervorhebung des Kantatencharakters in "Adelaide"; auf die tiefe Verinnerlichung der Diktion in "Wonne und Wehmut"; auf das zu einer köstlichen Humoreske gestaltete "Flohlied" Mephistos. Daß der begnadete Sänger sich im Vollbesitz seiner herrlichen vokalen Mittel erwies und von ihnen in souveräner Art Gebrauch machte, hatte an dem überwältigenden Gesamteindruck des Konzerts ebenso Anteil, wie die sich in der Vortragsweise kundgebende gesteigerte Vergeistigung, die Dietrich Fischer-Dieskau auf neuen Wegen bedeutsamer künstlerischer Entwicklung zeigte.

Rh.

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     Züricher Tagesanzeiger, Datum unbekannt     

Zürcher Konzerte

Dietrich Fischer-Dieskau singt Beethoven

  

Als Liederkomponist hat Beethoven bei weitem nicht die Bedeutung eines Schubert, Schumann oder Brahms erlangt. Er fühlte sich zwar früh zum Liede hingezogen, kam aber über den Standpunkt des Oden-Komponisten des 18. Jahrhunderts kaum hinaus. Ihm war das Liedschaffen nicht Lebensaufgabe wie Schubert. Von den rund siebzig hinterlassenen Gesängen (deutschen und italienischen) wird im Konzertsaal das meiste übergangen. Einige Nummern aber, die über das Konventionelle des "gefühlvollen" Zeitalters hinausweisen, haben sich im Repertoire der Sänger erhalten und dürfen gewissen Erzeugnissen von Schubert als ebenbürtig zur Seite gestellt werden. Da sind vor allem die Goethe-Lieder, die ernsten und die humoristischen, sodann die sechs im Stil vereinfachenden Gellert-Gesänge, ferner die aus der Frühzeit stammende, sich noch im Ausdrucksbereich der Arie und der Kantate bewegende "Adelaide" und der lenzfreudige Liederkreis "An die ferne Geliebte".

Ein so populärer Künstler wie Dietrich Fischer-Dieskau konnte es unbedenklich wagen, einen ganzen Abend lang ausschließlich Beethoven zu singen, ein nicht durchwegs bequemes, jedoch dankbares Unternehmen. Dabei bestätigt sich abermals, was an Fischer-Dieskaus Kunst allgemein gerühmt wird: die Schönheit seiner Naturstimme, die musikalische Intelligenz und die Wärme des Ausdrucks. Mit bezaubernder Liebenswürdigkeit vollzieht der Baritonist das Mittleramt zwischen der Kunst und den Menschen. Fischer-Dieskau hat sich eine Technik erarbeitet, die ihm ein völlig druckloses Singen, flexibles Auswechseln verschiedener Tonlagen sowie die absolute Freiheit in der Darstellung ermöglicht. Von seiner organischen Veranlagung, von seiner vollendeten Atem- und Ansatztechnik mögen die Fachleute unter sich reden; das Geheimnis der Wirkung liegt noch anderswo; in diesem Künstler, der uns so unmittelbar zu ergreifen vermag, hat sich, rein gefühlsmässig und wie von selber, das erschlossen, was man unter dem Inbegriff deutscher Liedpoesie versteht.

Der illustre Sänger, der seinem Weltrug gemäss, den grossen Tonhallesaal beanspruchte, hat eine zweckmässige Auswahl getroffen und die Vortragsfolge abwechslungsreich gestaltet. Beginnend mit der Canzone "In questa tomba oscura", warf er sodann den Worten aus Tiedges "Urania" folgend die Frage auf, "ob ein Gott sei?" - eine Frage, die Beethoven in einem ariosen Monolog (zweite Komposition "An die Hoffnung") glaubenskräftig bejaht hat. Es schlossen sich die sechs Gellert-Lieder an, mit deren Höhepunkt, dem allbekannten Hymnus "Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre", wo sich das metallische Forte des Sängers mächtig entfalten konnte. Nachdem Beethoven bereits den grössten Teil seiner Sonaten und Sinfonien geschaffen hatte, muss er von leidenschaftlicher Sehnsucht ergriffen worden sein.; er schrieb den Liederkreis "An die ferne Geliebte", einen mehrere Strophen umfassenden Zyklus, der Schubert zum Vorbild wurde. Ausgezeichnet wusste Fischer-Dieskau die sechs zusammenhängenden Stücke zu charakterisieren. Ganz besonders bewunderte man die Leichtigkeit der "Segler in den Höhen", den Schwung des "Mailiedes" sowie die innige Hingabe an die Schlussworte "Nimm sie hin denn, diese Lieder".

Natürlich durfte in der sorgsam zusammengestellten Anthologie auch die "Adelaide" , die ätherische, von der Idylle zur Dithyrambe sich aufschwingende Phantasie Matthissons und Beethovens, nicht fehlen, die zum vorausgegangenen, einem instrumentalen Rondo ähnlichen "Wachtelschlag" einen lebhaften Kontrast bildete. Ein stilles Opfer brachte der Sänger den "Tränen unglücklicher Liebe" (Wonne der Wehmut"), wurde dann aber umso stürmischer beim ekstatischen Ausruf "Herz, mein Herz, was soll es geben?" und beschloss das offizielle Programm mit Mephistos Flohballade, worauf selbstverständlich noch etliche Zugaben folgten.

Um die pianistische Ausgestaltung der Lieder machte sich Fischer-Dieskaus bewährter Klavierpartner Günther Weißenborn in hohem Masse verdient.

fg.

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Zeitungsquelle unbekannt, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit schweizerische Presse.

    

Dietrich Fischer-Dieskau

   

Beethoven gehört im allgemeinen nicht zu den bevorzugten Komponisten der Sänger; er legt seine Melodien nicht so eingängig in die Kehle wie z. B. Schubert, und er gestattet keine Star-Allüren. Dietrich Fischer-Dieskau hat die gesanglichen Vorurteile entkräftet, und von Star-Allüren ist bei ihm ohnehin keine Spur. Er hat sie nicht nötig. Er kommt aufs Podium, steht ohne Pose da und behält seine entspannte Haltung sogar während des Singens. Die Fülle seines begnadeten Organs scheint unerschöpflich, nie geht er bis an seine Grenzen, und seine perfekte Atemtechnik erlaubt ihm jede gewünschte Phrasierung. Fischer-Dieskau ist ein durchaus mannlicher Sänger. Es gibt Gefühl bei ihm, Seele, Romantik, aber weder Sentimentalität noch falsches Pathos, das nur verkappte Weichlichkeit wäre.

Echtes Pathos kennt er sehr wohl und weiss es, selten, anzuwenden. Das Wunder bei ihm ist vielleicht, dass er als Könner bewusst gestaltet und sein Können trotzdem in der Gestaltung vollständig vergisst.

So wurde der Liederabend am 20. Mai für Liebhaber und Kenner gleichermassen ein Fest, und es störte nicht einmal, dass intime Lieder wie "Wonne der Wehmut" oder einzelnes aus dem Zyklus "An die ferne Geliebte" im Grossen Tonhallesaal konzessionslos in Piano vorgetragen wurden; denn auch das Piano "trug" bis in die hintersten Reihen. Ausserdem erzog Fischer-Dieskau das Publikum. Er verbat sich während der Liedgruppen Beifall und Umblättern der Textseiten, und seine Bitte wurde respektiert. Allerdings war die Anordnung der Texte auch so gehalten, dass kein Umblättern nötig war - eine Regie, die man sich zum Vorbild nehmen sollte.

Ausser dem oben erwähnten Zyklus sang Fischer-Dieskau die sechs Lieder nach gedichten von Gellert, "Adelaide" und "Der Wachtelschlag", hatte mit "In questa tomba oscura" und der grossen Fassung von "An die Hoffnung" begonnen und endete mit fünf Goethe-Liedern, als letzte "Neue Liebe, neues Leben" und "Mephistos Flohlied". Auch in den Zugaben blieb er bei Beethoven; unter ihnen waren "Andenken", die Metastasio Ariette "L'amante impaziente", das sonst oft banal abgesungene "Ich liebe dich" und zum Abschied Goethes "Marmotte". mehr als nur ein Begleiter war der feinfühlige, vorzügliche Pianist Günther Weißenborn.

vs.

 

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