Zum Liederabend am 16. Mai 1966 in Bremen


Bremer Nachrichten, 18. Mai 1966

Fischer-Dieskau sang in Bremen

Jedes Lied ein Erlebnis

Für das letzte Meisterkonzert der Saison war der große Glockensaal seit langem ausverkauft. Aber ein Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau, den es brachte, ist auch nach wie vor ein Ereignis, bei dem man immer wieder nicht weiß, was man mehr bewundern soll: den Sänger mit der unvergleichlich begnadeten Stimme oder den Künstler, der auch ein unscheinbar schlichtes Lied als ein lyrisches Kleinod darzubieten weiß.

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schumann, den Mittleren zwischen Schubert und Hugo Wolf in dem Dreigestirn der Meister des deutschen Liedes, deren Schaffen vor dem Versiegen im Konzertsaal bewahrt zu haben vielleicht eines seiner schönsten Verdienste ist. Fischer-Dieskau ist nicht nur ein genial gestaltender Künstler, sondern auch einer, der seine jeweilige Aufgabe klug bedenkt.

So brachte er eine Schumann-Auslese, die dessen Lied-Leistung mit Bekanntem und Unbekanntem, mit Überragendem und auch nur Zeitgebundenem, mit einmal Großem und auch nur Liebenswertem repräsentierte. Feinsinnig standen im Mittelpunkt Stücke aus Schumanns erstem Lied-Wurf, Opus 25, mit dem sich der Komponist nach beinahe ausschließlichem Klavierschaffen nun auch als Lyriker bewies. Als wolle Fischer-Dieskau vergegenwärtigen, daß auch im Lied Schumanns Lebenswerk mehr eine herrliche Bereicherung als eine Ausweitung seines schöpferischen Frühlings gewesen ist, rahmten Werke aus dem frühen Lied-Oeuvre, wie die Vertonungen von Rückerts "Widmung", Mosens "Nußbaum" und Heines "Lotosblume" und Goethes "Freisinn" und "Talismane" Beispiele aus dem späteren Liedschaffen bis hin zum Opus 127 ("Dein Angesicht") ein. Sie bezeugten zugleich Schumanns sensible Einfühlung in die Mentalität seiner Dichter: Geibels Übersetzungen chevaleresker und buffonesker spanischer Poesie, Byrons ausladende ("Aus den Hebräischen Gesängen") und Rückerts etwas enge Romantik ("Widmung") und vor allem Heines Kränklichkeit und Ironie.

In Fischer-Dieskaus Darbietung wurde jedes Lied und jeder Gesang zu einem in sich erfüllten und abgerundeten Erlebnis. Seine stimmlichen Mittel und die Skala seines künstlerischen Ausdrucks erscheinen unerschöpflich. Auch im zarten Piano hat sein Bariton Tragkraft und bei keinem noch so eruptiven Ausbruch empfindet man seine Stimme überfordert, wie auch seine Gestaltung in den expressiven Grenzbereichen nirgends zerfließend oder forciert anmutet. Allerdings kann der Sänger Fischer-Dieskau sich auch im einen wie im anderen bis zum Letzten seines Potentials ausgeben, weil er in Günther Weißenborn am Flügel einen Partner hat, der Schumanns Klavierbegleitung zu erfüllen weiß und seinem Spiel nichts schuldig bleibt, wo das Instrument das Lied zu Ende zu singen hat.

Fritz Piersig

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