Zum Liederabend am 6. Mai 1966 in Heidelberg


Heidelberger Tageblatt, 10. Mai 1966

"Gesang ist Leben"

Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder von Beethoven

Daß der Abschlußabend in der Reihe der Meisterkonzerte zu einem ungewöhnlichen Ereignis würde, war zuvor schon durch den Sänger Dietrich Fischer-Dieskau und sein unkonventionelles Programm (ausschließlich Beethoven-Lieder) gegeben. Dieskaus Programmgestaltung richtet sich nach ästhetischen Prinzipien, d.h. der herkömmliche Liederabend mit Bravourarien und populären Romanzen wird reformiert, und in Matineen und Soireen werden vornehmlich Liederzyklen und Lyrikvertonungen von jeweils einem einzigen Dichter, Querschnitte durch das Liedwerk eines einzigen Komponisten gebracht. Zu seiner Wahl eines speziell Beethoven gewidmeten Liederabends schreibt Dieskau in einer Randnotiz: "Wer möchte den ganz besonderen Ton gelöster Innigkeit beim Beethoven der Lieder missen, der ihm mit solcher Vielfarbigkeit in anderen Werken selten zu Gebote stand. Es kommt darauf an, auch diese Seite des Großen voll zum Klingen zu bringen."

Beethoven komponierte keine Zyklen; so gab Fischer-Dieskau einen Querschnitt durch das Liedschaffen Beethovens, durchweg Lieder mit großem Ausdruckscharakter. Daß dabei fünf bekannte Goethe-Vertonungen als krönender Abschluß standen, ist verständlich bei der großen Zuneigung des Komponisten zu diesem Dichter. Sein Leben lang befaßte sich Beethoven mit Versen und Dichtungen Goethes. Das neckische, spielerische Faustprodukt aus Auerbachs Keller, "Mephistos Flohlied", op. 75, war akzentuierte Schlußpointe.

Zu Anfang des Abends standen Carpanies Arietta "In questa tomba oscura" und "An die Hoffnung", op. 94 aus Tiedges Urania. Schon hier konnte Fischer-Dieskau die ganze Vielfalt seiner Stimmenregister zum Klingen, sein Tonvolumen zum Tragen bringen, Flexibilität und musikalische Verve beweisen.

Die sechs Gellertlieder op. 48 beinhalten so bekannte Lieder wie "Gott, deine Güte" und "Die Himmel rühmen". Beethoven arbeitet in diesen unweltlichen Gellertvertonungen teils mit verinnerlichten volksliedhaften Tönen (Gottes Güte) und mächtigen Klangmassen (Gottes Stärke). – Wohl als Konzession an das begeisterte Publikum sang Fischer-Dieskau Jeiteles’ "An die ferne Geliebte" op. 98, einen Liederzyklus verschiedener Versgruppen, bekannt geworden durch ihre eingängige Melodik, ihren volkstümlichen Charakter, ihren sehnsuchtsschweren Ton. Aber der Künstler versteht es, allzu Bekanntes durch Neudeutung zu intensivieren, zu neuem Leben zu wecken. An diesem Abend hörte man einen neuen Beethoven, vom Interpretationsgenie Fischer-Dieskau durch gekonnte Klangregie modifiziert und neu belebt. Es verwirrte, den Sinfoniker Beethoven in dieser Art zu hören. Da gab es viel Pastelltöne, Transparenz romanesker Prägung, verschwebende Pianissimi und andächtige Gebetsstimmung. Fischer-Dieskau verfügt über eine exklusive Noblesse der Stimme, einen Intellekt, der mit penibler Akkuratesse die Lieder in allen dynamischen Gegebenheiten auszuloten vermag und durch genaue Dosierung der Stimmgebung dem Lied Balance und Ausgewogenheit verleiht. Jeder Ton besitzt bei ihm Eigenwert, wird durch seine Stimme zu einer eigenen Welt.

Fischer-Dieskau singt nicht nur, sondern er weiß, was er singt. Und so wird durch Mitleben und Gestaltung jedes einzelne Lied in seinem spezifischen Klangcharakter zu einem lebendigen Gebilde. Seine exquisite Aussprache und sinngemäße Textbetonung wirken nuancierend und dramatisierend, wobei aber durch diese Art der Akzentuierung die musikalische Einheit, die Gesangslinie nicht gestört ist. Die Suggestion von Vokal- und Vokabeldemonstration wird noch verstärkt durch wohlbedachte Deklamation. Fischer-Dieskau versucht die Musik dem Sprechrhythmus einzuordnen. Das Sängerwunder verfügt dazu über eine einmalige Technik, die schwierigsten Passagen als Spielerei erscheinen zu lassen. Sein balsamischer Bariton ist wohltuend warm und voluminös.

Aber derm Sänger Fischer-Dieskau ist es nicht nur um den Gesang, sondern auch um den Gedankenaustausch mit den ihn begleitenden Pianisten zu tun, die Mitgestalter seiner individuellen Interpretation sind. Günther Weißenborn, sein Lehrer und langbewährter musikalischer Helfer bei der Verwirklichung der Konzeption von Fischer-Dieskaus Interpretationskunst, war eine Persönlichkeit am Flügel, einfühlend und mitlebend und als Begleiter vorzüglich. Er fühlte die speziell pianistische Klangstruktur des Beethovenschen Liedes heraus und verwirklichte sie durch superben Anschlag, Exaktheit und Dynamik. So war durch das Zusammenwirken zweier großer Musikerpersönlichkeiten ein unvergeßlicher Abend gegeben, der die enthusiasmierte Fischer-Dieskau-Anhängerschaft in der überfüllten Stadthalle zu furiosen Beifallsdemonstrationen hinriß, die noch lange nach der fünften Zugabe mit unverminderter Vehemenz anhielten.

U. Rühle

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