Zur Oper am 5. Oktober 1965 in Berlin

Die Welt, 7. Oktober 1965    

Gebaute Form, die tönend sich entwickelt

Eine historische Stunde. Mit dieser Premiere hat sich das Schicksal der Deutschen Oper Berlin für die nächsten Jahre entschieden. Was bisher nur Hoffnung war, ist jetzt Tatsache geworden: Das seit Ferenc Fricsays frühem Tod musikalisch verwaiste Haus hat wieder einen Chefdirigenten. Nicht nur der amtlichen Befugnis nach, sondern auf Grund seiner künstlerischen Qualifikation ist Lorin Maazel unter Sellners Intendanz zur musikalischen Führung von Deutschlands exponiertester Opernbühne berufen. Westberlin atmet auf. Es sieht sich einer bangen Sorge enthoben.

Es besteht kein Anlaß, Vorschußlorbeeren zu vergeben. Wir wissen: Das Wagnis bleibt, solange Maazel damit beschäftigt ist, das Freiheitsbewußtsein, das ihm sein kometenhafter Aufstieg in der internationalen Musikwelt bisher gab, mit der Kleinarbeit im Rahmen der Residenzpflicht abzustimmen, die ihm seine Berliner Doppelposition als Chefdirigent der Oper und des Radio-Sinfonie-Orchesters auferlegt.

Aber wir wissen auch: Diese "Traviata"-Premiere war mehr als nur ein Blankoscheck auf ein allseitig als kreditwürdig anerkanntes Talent. Sie war vollgültige Bestätigung eines Künstlers, der sich den härtesten Prüfungen unterworfen hat und daraus mit dem ersten Preis hervorgegangen ist.

Erschreckend klein ist heute in Deutschland die Zahl der Dirigenten, die zu Verdi noch ein echtes, unmittelbares Verhältnis haben und dazu imstande sind, seine Musik ihrer inneren Gesetzlichkeit gemäß zu realisieren. Maazel gehört zu diesen wenigen. Er hat den Sinn für den neuen "psychologischen" Klang des Traviata-Orchesters, der sich zu rein musikalischer Deutkraft der "begleitenden" Harmonik erhebt, für die sublime Lyrik der Arien, der gerade in dieser Oper für die Zeichnung des Pathologischen neue und kühne Ausdrucksmittel zuwachsen. Und er hat vor allem auch den Nerv für die eminent dramatische Funktion und bauende Kraft von Verdis Rhythmik, die weit über die einzelnen Arien hinaus, in mannigfacher Stufung zwischen Parlando und ariosem Gesang oder großem Chorensemble, ganze Szenen, ja ganze Akte zu reich gegliederter Großform zusammenschließt.

In diesem Sinne wurden die beiden Bilder des zweiten Aktes zum absoluten Höhepunkt des Abends. Wie Maazel die Intimität der melodischen Gebärde nachzeichnet, wie behutsam und doch bestimmt er die Sänger führt, sein herrlich spielendes Orchester dämpft und transparent macht, wie er die Monologe und Duette ausschwingen läßt und daraus die innere Spannung für die dramatische Kulmination in der Ballszene gewinnt – das war schlechthin außerordentlich.

Im ersten Akt entging der Dirigent nicht immer der (in seinem starken Temperament gründenden) Gefahr, die dramatischen Akzente und die Tempi (mit denen der sonst so vortreffliche Chor anfangs einige Schwierigkeiten hatte) leicht zurückzuziehen. Vorbildlich in der noblen Klangtönung, der feinhörig abgestuften Phrasierung, der musikalischen Diskretion war das Schlußbild.

Die künstlerische Intensität und Zielklarheit des Dirigenten hatte sich offenbar auch auf den Regisseur Gustav Rudolf Sellner übertragen. Seine Inszenierung brauchte auf die dekorativen Tableaus um so weniger zu verzichten, als sie immer auch darauf bedacht war, die seelischen Konflikte dieser ersten modernen Sozialtragödie auf der Opernbühne herauszuarbeiten. Das gelang nicht ganz in der reichlich überladenen, ja verbauten Szenerie des ersten Akts, wo das auf dem Fußboden (!) für einige Gäste angerichtete Picknick zwar die Bohème-Atmosphäre dieser Pariser Lebewelt anschaulich illustrierte, auf die Dauer aber die Bewegung der Akteure, die Intimität der Begegnung zwischen Alfred und Violetta beeinträchtigte.

In der Landhausszene gewann das innere Drama glaubwürdige Gestalt, das über die grandiose Ballszene hinweg, den prunkvollen Höhepunkt dieser Inszenierung, und auch die Ausstattung Filippo Sanjusts bis zum zart verklingenden Schluß so unaufhaltsam abrollt.

Die Titelpartie sang am ersten Abend Hilde Güden – offenbar leider trotz einer leichten stimmlichen Indisposition, die sie, namentlich in der ersten Koloraturarie, gelegentlich etwas zum Forcieren zwang. Um so mehr zu bewundern waren ihre reife Stimmkunst und ihre hohe Geschmackskultur. Und welch starke Ausstrahlung hat diese herrliche Künstlerin, die im Grunde viel zu edel, zu fraulich warm ist für das Schicksal einer Traviata, dem sie gleichwohl in Stimme und Spiel so bewegenden Ausdruck verleiht.

Für die Partie des Alfred hatte Giacomo Aragall viel jugendlichen Elan und darstellerische Elastizität einzusetzen. An lyrischem Schmelz und stimmlicher Präsenz wird sein geschmeidiger Tenor freilich noch manches hinzugewinnen müssen. Dietrich Fischer-Dieskaus überraschend scharf profilierter Vater Germot adelte die fragwürdige Gestalt dieses Repräsentanten einer überlebten Sozialordnung. Seine Duette mit Violetta im zweiten Bild gehören zu den schönsten Eindrücken dieses Abends.

Heinz Joachim

Der Tagesspiegel, 7. Oktober 1965     

  

Roman der edlen Dirne

Verdis "La Traviata" – Festwochenbeitrag der Deutschen Oper

   

Die drei Opern, die Verdis Geltung als Repertoire-Komponist in seiner Mitwelt begründet haben und die noch heute die festesten Stützen seiner Popularität sind, wurden dem Publikum der Deutschen Oper in Berlin in kurzen Abständen während der Frist eines Jahres präsentiert: "Il Trovatore" als romantische Reminiszenz und sängerische Starparade, "Rigoletto" als effektvolles, melodisch attraktives Theaterstück, und nun zum dritten "La Traviata" in einer prätentiösen, vom Generalintendanten Gustav Rudolf Sellner und vom neuen Generalmusikdirektor Lorin Maazel verantworteten Aufführung, deren stärkste Wirkung ist, daß sie zum Nachdenken anregt, daß sie dazu beiträgt, das Verhältnis des Hörers von 1965 zu den überlieferten Bestsellern der Musikbühne auf eine neue Grundlage zu stellen.

Die Frage: "Warum hat Verdi diesen Stoff komponiert?" erhebt sich bei allen drei Werken, am dringlichsten aber, am schwersten zu beantworten bei "La Traviata", der "Verirrten", der traurigen und rührseligen Geschichte einer Pariser Kokotte, die der jüngere Dumas in einem Roman und einem vielgespielten Theaterstück von der "Kameliendame" erzählt hat. Marguerite Gautier, die von Verdis Textdichter Piave in Violetta Valéry umbenannt wurde, ist der romantisierte Typus der in Lust und Luxus lebenden Kurtisane, die dem Schicksal der großen Liebe, das ihr zuteil wird, nur noch durch Resignation gewachsen ist; sie entsagt dem Manne, der bereit ist, ihr seine bürgerliche Stellung zu opfern, und stirbt, verlassen und körperlich zerrüttet, einen frühen, trostlosen Tod. Dumas hat, das ist das Beste an seinem Roman, die Dirne keineswegs idealisiert. Er schildert das Schmutzige ihres Gewerbes, das ihr Wesen aushöhlt und zerstört, er macht das Infame des Luxus deutlich, der die femme entretenue umgibt. Das alles tritt in der Oper, nicht nur durch die vorsichtig glättende Hand des Textbearbeiters, sondern auch durch die reinigende, erhöhende Kraft de Musik zurück. Violetta wird zur glänzenden, schönsingenden Primadonna, ihre Welt zur Festsaal-Dekoration, zum reichkostümierten, farbenfrohen Tableau. Die triste, leidlich wahrhaftige Geschichte wird zum melodiösen Rührstück, zur schönen Kunstlüge. So wenigstens ist "La Traviata" gemeinhin von den Bühnen gespielt und vom Publikum aufgefaßt worden.

Die Frage bleibt: Warum – sollen wir nicht einfach Sensationslust, Freude am Kolportagehaften zum Motiv setzen – hat Verdi diesen Stoff komponiert, den das Medium der Musik auf ästhetisch gefährliche Weise verfälschen mußte? Eine grandiose eindringliche Szene der Aufführung in der Deutschen Oper gibt die Antwort: die Festszene des zweiten Aktes, die eine Meisterleistung des Regisseurs Gustav Rudolf Sellner und seines Bühnenbildners Filippo Sanjust ist. Ein geschmacklos-prächtiges Vergnügungsetablissement in schreiendem, bösem Rot, mit Säulen und Rundbögen, Galerien und Gardinen, hoch und eng in bedrohlich verzeichneten Perspektiven; ein Gewimmel von befrackten Herren, von Mädchen in üppigen Toiletten, von Masken und billig-phantastischen Verkleidungen. Eine banale, trübe Orgie, in die wie ein Blitzstrahl ein Exzeß rasender Leidenschaft hineinfährt, Violettas Beschimpfung durch den Geliebten, der sich verraten glaubt; die Geldscheine, die er ihr zuwirft, fallen auf sie, eine pervertierte Danae, nieder wie ein grauer, schmutziger Regen. Hier offenbart sich die Szenerie des Stückes als das, was sie ist: eine flammende Hölle, in der Lust, Laster und Leid eins sind. Aber in dieser Hölle bewahrt sich der Mensch, verdorben und verdammt, dennoch die Kraft des großen, reinen Gefühls und damit die Fähigkeit zur Tragik. Hier wächst die Aufführung über das Sujet hinaus; Dumas wird zu Balzac. Hier ahnt der Zuschauer, was den Musiker Verdi an dem fatalen Stoff gefesselt haben mag: nicht die Dirnentragödie, nicht das sentimentale Rührstück, sondern der Triumph der Humanität über die in ihr selbst ruhende Gefahr der Verderbnis.

*

Daß der Musiker Verdi an diesem Abend überzeugend zu Worte kam, ist das Verdienst des Dirigenten Lorin Maazel, der mit der Einstudierung der Oper seine Tätigkeit im Hause an der Bismarckstraße aufnahm. Schon das Vorspiel zum ersten Akt ließ erkennen, daß dieser holländisch-russische, in Amerika und Italien gebildete Musiker für Verdi alles mitbringt: die scharfe rhythmische Präzision, die den Begleitungsformen Profil gibt, die Glut des Gefühls, die nichts Laues, Schwächliches duldet, den empfindlichen Klangsinn, der die Harmonie in vollkommener Reinheit leuchten läßt, die Feinnervigkeit, die das Einfache vielfältig nuanciert. Dazu kommen im Fortgang des Abends die Lust an der grazilen Charakterisierung des melodischen Details, die Fähigkeit, Spannungen über weite Strecken vorwärtszutreiben, die Kraft, harte dramatische Akzente zu setzen, über die einst Toscanini verfügte. Bei aller Bewußtheit bleibt das spontane, unberechenbare Moment erhalten, das der Motor der lebendigen künstlerischen Leistung ist; man spürt die Lust des Musizierens mit großen Mitteln, die den Dirigenten vorwärtstreibt, man wird erschreckt durch Ausbrüche in den Bereich des Dämonischen, die doch wiederum die italienisch klare Form der Interpretation nicht sprengen. Von der intimen, zart begleiteten Arie bis zum stimmgewaltigen, zielbewußt aufgebauten Chorensemble ist alles konturiert, beherrscht, wie aus einem Guß gestaltet; die Singstimmen entfalten vollen, blühenden Klang und sind doch fest an die beherrschende musikdramatische Konzeption gebunden.

Violetta ist Hilde Güden. Schlank, distinguiert, von fast zu echter Noblesse der Erscheinung, läßt sie im ersten Akt mehr die Kälte als die Leidenschaft der Kurtisane spüren; sie absolviert ihre Arie mit einer sängerischen Bravour, die Koloraturen und hell strahlende Spitzentöne wirkungsgewiß ins Publikum schleudert. Aber im zweiten Akt, im Traum der ländlichen Idylle, den das Schicksal zerstört, findet sie lebendige Töne heißer Leidenschaft und stiller Resignation, und das langsame, qualvolle Verlöschen des Schlußaktes wird in allen Phasen der zärtlich-melancholischen Erinnerung, der Angst und der trügerischen Hoffnung durchlitten. Diese Violetta, blendend und ergreifend, wächst zu einer großen Verdi-Gestalt, geformt mit überlegener Intelligenz und reifer gesanglicher Kultur.

Giacomo Aragall singt den Alfredo mit der lyrischen Inbrunst eines jugendfrisch klingenden, elastisch geführten Tenors, dem das hohe C keine Schwierigkeiten bereitet. Er verfügt über die Fähigkeit des großen dramatischen Affekts, aber er bleibt unpersönlich-typenhaft und vermag als Darsteller den Sohn aus gutem Hause nicht recht glaubhaft zu machen.

Dietrich Fischer-Dieskau macht aus der mehrdeutigen Figur des Georg Germont ein imponierendes Monument bürgerlichen Anstandes und väterlicher Würde, das fest und unanfechtbar in der Halbwelt schwankender Gefühle steht. In seinem Gespräch mit der Sünderin, der entscheidenden Szene des zweiten Aktes, durchmißt er, virtuos charakterisierend, die ganze Skala rhetorischer Beschwörung von eifernder Anklage bis zu verstehendem Mitleid; die provençalische Romanze, die den verlorenen Sohn in den Schoß der Familie zurückruft, dürfte kaum jemals so ausdrucksvoll differenziert, ohne alle Rücksicht auf ariose Konvention gesungen worden sein.

Aus der durch den Opernchor verstärkten Komparserie der Vicomtes, Barone und Marquis, der Kokotten und Tänzerinnen hebt sich die Flora Sieglinde Wagners als ordinäre Gefährtin der edlen Heldin ab.

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Der Abend enthielt vieles und Gegensätzliches, das sich nicht immer zur Harmonie fügen wollte; zuweilen drängte sich dem Hörer trotz aller szenischen und musikalischen Perfektion die Frage auf, warum hier eigentlich ein französisches Lokalstück in italienischer Sprache vor einem deutschen Publikum gespielt werde, warum veraltete Probleme des neunzehnten Jahrhunderts auf der modernen Bühne noch konserviert würden. Aber Gustav Rudolf Sellners Regiekonzeption, über die auch, abgesehen von jener großartig-zentralen, die Verdi-Kultur Carl Eberts weiterführenden Szene, noch manches zu sagen wäre, zwang Gegensätzliches und Fragwürdiges zu starker theatralischer Wirkung zusammen. Die visuelle Überzeugungskraft des dekorativen Rahmens wirkt von außen in das dramatische Geschehen hinein, die Stimmungskraft des Milieus formt die Gestalten. Noch stärker als der bildhafte Effekt der Inszenierung ist ihre Idee: ein tendenzloser, nicht sozialkritisch oder sentimental engagierter, nur betrachtender Realismus, der die Handlung in historische und ästhetische Ferne rückt und aus der Distanzierung das künstlerische Erlebnis aufsteigen läßt.

Das Publikum, das beim Anblick der rotkolorierten Freudenhöhle in spontanen Szenenbeifall für den Bühnenmaler Filippo Sanjust ausbrach, spendete am Schluß langanhaltenden, einhelligen Beifall für die Hauptdarsteller, den Regisseur, den Dirigenten und das Orchester.

Werner Oehlmann


   

     Telegraf, Berlin, 7. Oktober 1965     

   

Neu gesehen und neu gestaltet

"La Traviata" in der Deutschen Oper

    

Welche Aufgabe hatten sich Lorin Maazel und Gustav Rudolf Sellner gestellt, als sie sich zur Einstudierung von Verdis "La Traviata" entschlossen? Wenn sie es für richtig hielten, dieses Werk als Festwochenbeitrag zu bringen, wenn Maazel mit ihm sein Wirken als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper aufnahm, dann lag darin eine Exponierung, für die besondere Gründe vorliegen mußten.

Was das Werk anbetrifft, so gehört es zu den Opern, die das Publikum stets begehrt, die darum aber allzu oft in minderer Qualität dargeboten und als Repertoirestück ohne besondere Hingabe mehr arrangiert als inszeniert werden. Es mußte also die Überzeugung vorhanden sein, daß dieser Verdi höheren ästhetischen Ansprüchen genügt, daß ihm eine tragende musikdramatische Konzeption zugrunde liegt, die nur selten richtig gewürdigt wird. Für Maazel bedeutete die Entscheidung für diese Oper, daß er sich als Verdi-Dirigent ausweisen wollte, als Musiker des blutvollen, elementaren Theaters, das mit dem Medium des Klanges tief in menschliche Leidenschaften und Verstrickungen hineinleuchtet. Der einhellige, unbestrittene große Erfolg der "Traviata"-Premiere bewies, daß Maazel und Sellner die richtige Karte ausgespielt hatten. Die Oper wurde von Grund auf neu gesehen und neu gestaltet; das Schicksal der Kameliendame ging als menschliche Tragödie über die Bühne; das Abgleiten ins Sentimentale war gebannt, ebenso aber auch die im heutigen Operntheater naheliegende Gefahr, durch Verfremdungseffekte das Werk im Sinne einer fragwürdigen Modernität umzustrukturieren. Die Gültigkeit und der hohe Rang der "Traviata" im Schaffen des italienischen Komponisten wurden offenbar.

Daß Maazel für eine sehr präzise Verwirklichung der Partitur sorgen würde, daß er das Farbenspektrum des Orchesters in differenzierter Weise auseinanderlegen würde, war vorauszusehen. Aber er konnte auch beweisen, daß ihm der Atem für das Dramatische zu eigen ist. Bemerkenswert ist sein Verhältnis zum Rhythmus, das weitgehend die Eigenart seines Interpretationsstils bestimmt. Maazel gibt ihm einen modernen Charakter, eine minuziöse Ausformung, die jeden Achtel-, jeden Sechzehntelwert mit federnder Straffheit erfüllt. Aber er vermeidet jetzt die explosive Härte, mit der er noch vor einigen Jahren manche Partitur allzusehr veräußerlichte. Wie Maazel zu einer Spannung im Großen kommt, wie er weite Komplexe als lebendige Einheit zusammenfaßt, wie er die Sänger führt, ohne sie einzuengen, das repräsentiert eine Leistung besonderer Art. Die Oper wurde mit großem Aufwand inszeniert, so daß auch das Auge zu seinem Recht kam. Der Bühnenbildner Filippo Sanjust ging von einem realistisch-historischen Aspekt aus; er gelangte dabei zu einem persönlichen Stil, der in den einzelnen Bildern die Details auf eine Grundfarbe bezog und in der Aufteilung des Raumes einen künstlerischen Eigenwillen walten ließ.

Gustav Rudolf Sellners Regie ist es zu danken, daß die Chorszenen aufgelockert abliefen, daß aber die seelischen Konflikte und Wandlungen der Hauptgestalten in der Vielfalt der Eindrücke die dominierende Schicht bildeten.

Hilde Güden, die die Kunst des Singens nicht nur instinkthaft, sondern mit Intelligenz und souveränem Können ausübt, wuchs als Violetta weit über das normale Opernspiel hinaus. Wie die Kameliendame in der Sphäre oberflächlichen Lebensgenusses von dem Erlebnis einer opferbereiten Liebe ergriffen wird, gestaltete sie mit hoher Eindringlichkeit. Giacomo Aragall verwaltete seine reichen und schönen stimmlichen Mittel mit sicherem Geschmack; unter Verzicht auf Selbstherrlichkeit und unter Einsatz alles dessen, was den italienischen Gesangsstil ausmacht, baute er das Charakterbild seiner Rolle auch mit nicht alltäglichem darstellerischem Vermögen auf.

Dem Vater Germont gab Dietrich Fischer-Dieskau eine starke, individuelle Prägung. Seine Begegnung mit Violetta, der er als entrüsteter Verfechter gesellschaftlicher Reputation gegenübertritt, um dann ihre echte, verwandelnde Liebe zu seinem Sohn zu erkennen, hatte ungewöhnliche, erregende Ausstrahlung und gehörte zu den großen Momenten des Operntheaters.

Von den übrigen Mitwirkenden, die zum Gelingen des Ganzen ihren Beitrag leisteten, seien Sieglinde Wagner, Gitta Mikes, Karl Ernst Mercker, Manfred Röhrl und Ivan Sardi genannt.

Der Schlußbeifall entfaltete sich zu größten Dimensionen.

Karl Rehberg


    

     Süddeutsche Zeitung ?, Datum unbekannt     

    

Gustav Rudolf Sellner und Lorin Maazel zeigen in Berlin Verdis "Traviata".

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Glanz des Ensembles

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Als weiblichen Partner dieser Romanze stellte Sellner eine Grande Dame der Musikbühne heraus – Hilde Güden von der Wiener Staatsoper, die durch einen umfangreichen Gastspielvertrag jetzt auch enger an das Haus in Charlottenburg gebunden ist. Ihre Violetta, nach Erscheinung und Noblesse der "Tenue" mehr der Welt der großen Kurtisanen Balzacs als der Lebedamenhalbwelt des jungen Dumas angehörend, vereinigt gesanglich virtuos kolorierten Primadonnenglanz mit ebenso zarter wie leidenschaftlicher Innigkeit des Ausdrucks. Ihr glaubt man von vornherein die "schöne Seele", die sich über das Milieu erhebt, in dem sie lebt, ja sogar das Verständnis und den Respekt für jene bürgerliche Ehre, die der alte Germont so penetrant vertritt. Daß Dietrich Fischer-Dieskau die Kantabilität dieser Partie mit seiner herrlichen Stimme und seiner auch im "italienischen Stil" vollendeten Gesangskunst zu höchster Wirkung bringen würde, war von vornherein nicht zu bezweifeln. Diskutieren kann man jedoch darüber, daß er dem verknöcherten bigotten Provinzler, den auch die Liebe zu seinen Kindern nicht sympathischer macht, einen Zug allzu düsterer Herrenhaftigkeit gab.

Wie denn Fischer-Dieskau überhaupt dazu neigt, allen dramatischen Stellen einen merkwürdig grollenden Akzent zu geben, der keineswegs immer mit dem ihnen jeweils zugehörenden Ausdrucksgehalt zusammentrifft. Mit Giacomo Aragall, der den Alfredo mit schönstem lyrischem Timbre sang, scheint die Berliner Oper einen (wie man hört, aus Portugal stammenden) italienischen Tenor der Sonderklasse gewonnen zu haben, von dem viel zu erwarten ist. Die ausgezeichnet besetzten kleineren Partien, der großartig disziplinierte Chor von Walter Hagen-Groll und das seinem neuen Chef mit präzisester Aufmerksamkeit folgende Orchester sicherten der ersten Berliner Opernpremiere der neuen Spielzeit ihrerseits den exzeptionellen Rang. Die Beifallstürme am Schluß nahmen zumal für den musikalischen Leiter demonstrativen Charakter an. Was wir in München entbehren: den autoritativen Dirigenten für die italienische Oper – kein Zweifel, daß Berlin ihn mit Lorin Maazel gewonnen hat.

 

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