Zum Liederabend am 13. August 1965 in Salzburg

Salzburger Nachrichten, 16. August 1965 

Widmung an Beethoven

Der diesjährige Festspiel-Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau mit Gerald Moore

Romain Rolland reicht uns den Schlüssel zu der Eigenart Beethovenscher Genialität, wenn er sagt: Musik ist ein Bauwerk in Bewegung. Der Satz steht in seinem berühmten Buch über die "großen schöpferischen Epochen" des Meisters, und Rolland fixiert die Aussage noch mit Nachdrücklichkeit auf die kompositorische Individualität Beethovens, der wie kein anderer "den musikalischen Gedanken mit so übermenschlicher Heftigkeit und Ausdauer gepackt" hält.

Damit ist auch über die Werke von Beethovens Liedkunst das Entscheidende ausgesprochen. In ihr folgt die Melodie den Gesetzen der absoluten Musik nicht anders als in den Sonaten, und was der Gesangsstimme zugedacht ist, hat zuallernächst den formklaren musikalischen Wuchs der klassischen Tonsprache. Dabei mag die kennzeichnende Vorliebe für das Legato in seinen Klavierkompositionen den Meister auch im Liedwerk zu häufig ähnlichen, charakteristischen Ausdrucksweisen bestimmt haben, die wir als quasi-instrumental geführte, weithin gebundene Linien wahrnehmen können. So in den Liedern des opus 98, "An die ferne Geliebte", in den frühen Gesängen des "Mailieds" und der "Adelaide", die zum Programm des Abends zählten.

Unterschiede zeigen sich wohl am deutlichsten anhand der Formvarianten, die ihren Weg von der ariosen Prägung und dem mehr der Solokantate als dem Kunstlied zuneigenden Stil des jungen Beethoven bis zur vollendeten Gattung der späteren Liedkompositionen durchgemacht haben. Zwei signifikante Beispiele dieser weiten Spanne machten hier den Beginn: die Arietta "In questa tomba oscura" und das Lied "An die Hoffnung" in seiner Spätfassung. Es wurde erkennbar, wie nach der rein kantatenhaften Gestaltung des italienischen Gedichtes in der folgenden Vertonung des deutschen der instrumentale Melos-Charakter zwar nicht aufgegeben, jedoch in eine reichere Form eingefügt ist, darin der große lyrische Bogen, auf einen rezitativischen Vorbau gestützt, beides prachtvoll in eins münden läßt: Sprache des Wortes und Sprache der absoluten Musik. Näher der Kantate stehen die Sechs geistlichen Lieder von Gellert, op. 48, obgleich die Ausdrucksskala der Lyrik in einigen von ihnen, wie in der ans Herz greifenden Mahnung "Vom Tode" und stellenweise in der bekenntnishaften Bewegtheit des "Bußlieds", schon ihr motivierendes Farbenspiel ans Licht hebt.

Das vollkommene Kunstlied im Beethovenschen Sinne und in sich noch ein Muster klassisch-ebenmäßiger Proportionen des Aufbaus von Stück zu Stück wird an dem Zyklus "An die ferne Geliebte" offenbar. Diese Komposition mit ihrem so bedeutsam beredten, auf gleichem Rang geführten Klavierpart, könnte wohl dieselbe Anweisung tragen, die der Autor Jahre vorher dem Erstdruck seiner "Pastoral-Sinfonie" mitgegeben hat, als er über die Noten schrieb: "...Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei". Denn in diesen sechs Liedern sind die Bilder der Natur mit ihrer zauberhaften Fülle nirgendwo ins einzelne umgesetzt und farbig herausgestrichen, sondern alles zieht als eine andere, gespiegelte Wirklichkeit vorüber. Impression und verklärtes Erlebnis liebender Seelen, denen die Musik ihr Zeitmaß verlieh...

Aber sprechen wir nicht längst, ohne ihn genannt zu haben, neben dem Meister von dem Sänger, der nach solchem Verständnis des Werkes das Programm eingerichtet und es in kongenialer nachschöpferischer Form hat zum Ereignis werden lassen? Dietrich Fischer-Dieskau hatte diesen Liederabend mit seinem ebenbürtigen Begleiter Gerald Moore – der sich nun leider, bis auf Ausnahmen, aus dem Konzertleben zurückziehen will – einzig auf Ludwig van Beethoven gestellt. Wir haben noch zu verzeichnen, wie ihre Vortragsfolge nach der Pause sich fortsetzte: Wieder, wie zu Eingang, war mit dem Charakterlied "Der Wachtelschlag" ein Thema auf den Namen Gottes gestimmt. Von da an wendete sich der übrige Ablauf, bis auf ein Stück, ganz der Liebeslyrik zu. "Adelaide" und das "Mailied", von denen schon die Rede war, das eine als heiter aufglänzendes Ornament, das andere flink, einem Windspiel gleich und schwerelos wie aus einem Atem gesungen, schlossen in ihre Mitte das leidenschaftlich wehmütige Goethe-Lied "Trocknet nicht, Tränen der ewigen Liebe!" Die hohe Kunst, mit der Beethoven dieses Gedicht wahrhaft in Musik verwandelt hat, wiederholte sich bei dem fabelhaften Duo der beiden Interpreten in allen Phasen der Klanggebung von Stimme und Anschlag, der deklamatorischen Ausdeutung und des Formverlaufs. Hier wie schon in der stimmungsverwandten "Tomba"-Arietta zu Beginn traten herrlich dunkle Register des Baritons besonders hervor; in dessen ganzem Umfang entfaltet sich immer noch mehr von jener idealen Synthese, die Schmelz und Kern der Stimme homogen und aller dynamischen, aller farbigen Abstufungen fähig vereint.

Man scheut sich bei Dietrich Fischer-Dieskau, die technische Seite seines Gesanges besonders zu beleuchten, weil doch das ganze Licht seiner Gaben unmittelbar auf dem Erkennen und auf dem Eingehen ins Werk zu liegen scheint; indem er uns dieses wiedergibt, ist freilich alles Vorausgesetzte, die eigentliche Verwandlung von Erlebnis in Kunst bei ihm selbst schon lange bis ins kleinste vollzogen. In genau entsprechendem Sinne läßt sich dergleichen wohl nachlesen bei Diderot in dessen Schrift "Das Paradox über den Schauspieler".

Hier sei indessen zu Ende berichtet: Der Rest des Abends waren Goethe-Lieder aus der Zeit von 1809 bis 1811. Das von schwungvoll skandiertem Rhythmus angetriebene Sehnsuchtslied "Was zieht mir das Herz so?", danach folgte wie mit fliegendem Puls, den Refrain im Piano fast zu sehr unterspielt, das oft gehörte "Herz, mein Herz, was soll das geben?" – als ein anderer Zauberlehrling im Banne Amors. Zuletzt endlich gab es einen Triumph der vis comica des großen Sängers, dem zu allen guten Dingen glücklich auch der Humor nicht ermangelt. Mephistos boshaftes Flohlied, "Es war einmal ein König", ließ wie gestochen so scharf die hunderterlei Kniffe und Pointen, deren diese Stimme sich von Kellertiefe bis ins Falsett unnachahmlich virtuos bedient, an König, Hofstaat, Ministern und Zofen vorübergeistern und in einer tollen Stretta den Kehraus machen. – Jubel und Heiterkeit!

Vier lang erkämpfte Zugaben deutscher und italienischer Beethoven-Lieder fächerten noch einmal die ganze Kostbarkeit dieser Gesangskunst auf, in der vom innigen Volkston einer Liebesweise, vom strahlenden Belkanto bis zum metallischen Aufflammen des ariosen Brios jegliche Feinheit edel, rein und frisch zugegen ist. Ein Wohnen wie unter Göttern. Die besten aller Dinge erreicht der Beifall nicht.

Max Kaindl-Hönig

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