Zum Opernabend am 8. November 1964 in Köln


    

     Kölner Stadtanzeiger, 10. November 1964     

   

Heimkehr aus der Unterwelt

WDR feierte 250. Geburtstag Christoph Willibald Glucks

    

Orpheus – eines der zeitlosen Symbole für die Liebe, die selbst den Tod überwindet; kein Stoff ist musikgeprägter als seine Legende, keine Legende öfter Gegenstand der Operngeschichte geworden als diese. Niemals aber hat Orpheus ergreifender gesungen als bei Gluck, der seinem Helden und dessen zeitgenössischen Bewunderern die Trauer ersparte, die Liebe vom Mißtrauen zerstört zu sehen. Gluck beschenkte Orpheus unter Vermittlung eines amourösen Deus ex machina mit einer glücklichen Heimkehr aus der Unterwelt am Arme seiner geliebten Eurydike – und die Zeitgenossen waren es sehr zufrieden so.

Die konzertante Aufführung, die der Westdeutsche Rundfunk nach mancherlei Mühen zustande gebracht hatte, war von wahrhaft erschütternder Großartigkeit. Subtilste musikwissenschaftliche Forschungsarbeit war vorausgegangen, großzügige organisatorische Planung ermöglichte die Verwirklichung, und eine über alle Maßen bedeutende Aufführung wirkte als gerechtfertigte Krönung von Wünschen und Hoffnungen, die sich an Glucks Original anschlossen. Denn das war das Besondere dieses Abends, daß der Rundfunk die Urfassung, also die sogenannte Wiener Fassung, bot, nicht die überarbeitete und vielfach durch Zutaten verfälschte der Pariser Zeit, und daß er lediglich die originale Altkastratenpartie des Orpheus einer normalen Männerstimme übertrug.

Das Ganze wurde auf das altklassische Instrumentarium gebettet, das die Capella Coloniensis modellgerecht entwickelt hat und im übrigen mit äußerster Geschicklichkeit auf die besonderen akustischen Verhältnisse des großen Sendesaales abgestimmt.

Experiment mochte man sie nennen, die viel kargere, ja strengere Wiener Fassung der virtuoseren Pariser vorzuziehen. Aber wieder einmal mehr bewies sich, daß die Originale, werden sie nur richtig verstanden, schwerer wiegen als die effektreicheren Fassungen. Und für das Verständnis sorgten allerdings die Mitglieder der Capella unter Ferdinand Leitner, der das architektonische Gerüst von Spannung und Entspannung mit ausgeprägtem Zeitsinn zu errichten verstand, der Dramatik und Lyrik mit einem historischen Stilsinn erfaßte, der den Orfeo zum zeitgenössisch lebenden Stück machte.

Herrscher daneben Dietrich Fischer-Dieskau, der neben einer ausgeprägten musikwissenschaftlichen Intelligenz für Glucks dramatische Sprache ein Stimmvolumen entfaltete, das ungetrübt blieb und in seiner Agilität, musikalischen Lebenswahrheit und überragenden Ausdrucksgestaltung nur mehr potenziertes Lob erfahren kann. Elisabeth Söderström als Eurydike, Ruth-Margret Pütz als Amor boten den würdigen weiblichen Kontrapunkt. In der Capella schließlich nur hochqualifizierte Künstler, von denen jeder ein anerkannter Solist ist, und als Krönung schließlich noch der von Herbert Schernus einstudierte Rundfunkchor mit einer seiner besten und geschlossensten Leistungen.

Diese Orpheus-Aufführung wird künftig ein Markstein in der Geschichte des Kölner Musiklebens und der Gluckrenaissance abgeben. Und noch der vielleicht etwas unbescheidene Wunsch ans Ende: der Funk möge doch recht viele solcher Konzerte machen – alte Musik nicht als Tummelplatz der musikalischen Mittelmäßigkeit verhinderter Solisten, sondern als lebendiges Stück unserer musikalischen Gegenwart. Die Oper wird am Totensonntag (22. November) vom WDR gesendet.

-ky-


   

     Generalanzeiger, Bonn, 10. November 1964     

   

Glucks „Orfeo ed Euridice“ als Konzert

Denkwürdige Aufführung vor den Mikrophonen des WDR

    

Grundsätzlich: es kann natürlich nicht die Rede davon sein, nun mit aller Konsequenz für die Oper im Konzertsaal zu plädieren. Aber diese konzertante Aufführung von Glucks „Orfeo ed Euridice“ im großen Sendesaal des Kölner Funkhauses am Sonntagabend (gesendet wird die dabei gemachte Aufnahme am Totensonntag über die Mittelwellen des WDR/NDR) hob Aspekte des Werks in die Erfahrung, die in solcher Eindrücklichkeit wohl in keinem Opernhaus der Welt zu machen ist. Wobei als höchste Merkwürdigkeit des Abends vielleicht festzuhalten bleibt, dass die genannte Erfahrung das komplexe Opernerlebnis – mit Bühne, Bild, handelnd singenden Akteuren usw. – gleich und in einem erstaunlichen Grade mitsuggerierte. Eine Wirkung im übrigen, die man trotz allem und getrost Gluck zuschreiben kann...

Schon der aufgebotene, perfekte „Apparat“ wäre in der Oper kaum zu realisieren: der auf diffizilste Nuancen eingeschworene Berufschor (Herbert Schernus), das an allen Pulten mit bewährten, stilsicheren Solisten besetzte Orchester der Capella Coloniensis, der gegenwärtig absolut beste Sänger der Rolle des Orfeo (Fischer-Dieskau), zwei stimm- und ausdrucksstarke Sopranistinnen als Euridice und Amore (Elisabeth Söderström und Ruth-Margret Pütz). Und dazu Ferdinand Leitner am Pult, der das elementare Klangpathos der Gluckschen Leidensgeste mit exakt jenem Schuß federnd sanguinischer Serenität zu durchstrahlen und aufzuhellen verstand, die die im Text an und ausgesprochenen Gefühle  p e r  m u s i c a  erst als echt, menschlich, und nicht als unverbindlich übermenschlich erscheinen läßt.

Man spielte dazu die erste Wiener Fassung des Werks von 1762, sang natürlich den italienischen Originaltext Calzabigis und hielt sich in Instrumentalklang (die alten Instrumente der Capella Coloniensis!) und vokalem Schalldruck (kleine Chorbesetzung) möglichst nahe dem Urklang. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß solche „historische Richtigkeit“ nicht immer und unbedingt gleichbedeutend zu sein braucht mit Pedanterie und trockenem Akademismus, so wurde er hier geliefert: der Weg zum „Urklang“ wirkte wie die Freilegung auch des Ursinns dieser „Azione teatrale per musica“, der Bindung menschlicher Urerfahrungen in den Klanglogos von Musik...

Schließlich die ja nie nur „äußerliche“ Qualität der akustischen Ungetrübtheit der Darbietung der Musik und des Gesangs, die das weithin kammermusikalisch feine Gewebe der Textur, die subtilen instrumentalen Nuancen und die ausgeklügelte dynamische Schichtung der Musik für einmal absolut klar hörbar werden ließ. Das hatte streckenweise fast den Charakter von Offenbarungen, etwa der Tatsache, wie sehr der Schluß, das „lieto fine“ der italienischen Opernkonvention, regelrecht „angehängt“, künstlich aufgepappt wirkt. Man weiß nun auch, warum dieser Schluß auf der Bühne niemals sinnfällig werden kann...

Oper im Konzertsaal: eine Angelegenheit aber doch nur für Kenner, akustische Feinschmecker, von Radio und Schallplatte „verdorbene“ Perfektionsenthusiasten? Dieser Kölner Abend möchte fast eines anderen belehrt haben. Das Publikum war mehr als üblich begeistert.

Hans G. Schürmann


    

     Süddeutsche Zeitung, 18. November 1964     

    

Der rehabilitierte Gluck

Die Oper "Orfeo" in der Originalfassung

 [...]

Wer jetzt noch Gluck einstudiert, ohne von dieser Kölner Sensation Kenntnis genommen zu haben, macht sich förmlich strafbar. Der Hinweis auf die alten Instrumente, die das Theater nicht hat, verfängt nicht: Es gilt, den Klangstil zu säubern. Das gelingt, wenn auch weniger gut, sogar mit den üblichen Bläsern, allerdings nicht mehr mit der vollen Streicherbesetzung, mit einem "pedalisierten" Klang.

Freilich ist nicht überall Dietrich Fischer-Dieskau als Orfeo zu engagieren. Er sang so, daß wir behaupten dürfen, ihn zuvor kaum je in gleicher Intensität, Ausgeglichenheit und Konzentration erlebt zu haben. Es läßt sich nicht mehr schildern, wie er die Klangarien formte, vom Ausdruck bersten ließ, doch so variiert zwischen stiller Ergebung und aufbegehrender Verzweiflung, daß auch hier ein vokales Gluck-Bild mit gültigem neuem Maßstab versehen wurde. Elisabeth Söderströms Euridice und Ruth-Margret Pütz’ Amor ließen keinen Wunsch offen. Ferdinand Leitner dirigierte: nervig und markant, wie man es bei ihm lange nicht hörte.

W.-E. v. Lewinski

 

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