Zum Konzert am 25.? Oktober 1964 in Wien

Die Presse, Wien, 27. Oktober 1964

Aktuelles im Spiegel des Ewigen

"War Requiem" von Benjamin Britten bei den Philharmonikern

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Es war ein denkwürdiges philharmonisches Konzert, zu dem man nicht kam, um, wie’s sonst der Brauch ist, Interpretationsnuancen auszukosten, sondern um ein Werk kennenzulernen, dessen Wert und Inspiriertheit unmittelbar einleuchten.

Zur großen Wirkung trug eine mustergültige Aufführung wesentlich bei, bei welcher Istvan Kertesz die Gesamtleitung innehatte, während sich Benjamin Britten selbst als Dirigent des Kammerorchesters beteiligte. Neben den Philharmonikern, die das ganze Register ihrer Vorzüge spielen ließen, den Wiener Sängerknaben und dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, der, im Chorstudium durch Wilhelm Pitz, den Bayreuther Chormeister, gefestigt, wieder Proben seiner außerordentlichen Leistungsfähigkeit gab, waren vorzügliche Solisten beteiligt, zwei Sänger von Rang, wie Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau, und Heather Harper, eine Sopranistin großen Formats mit einer schönen und vollkommen ausgeglichenen Stimme. Sie sang die schwierige und anspruchsvolle Partie auswendig, in tadelloser Intonation, mit triebhafter Musikalität und lebhaftem Empfinden, ein Sinnbild der Würde und der vornehmen Geistigkeit, die Werk und Aufführung auszeichneten.

Heinrich Kralik


   

     Kurier, Wien, 26. Oktober 1964     

  

Britten in eigener Sache

Das War Requiem im letzten Philharmonischen Konzert

    

Benjamin Britten zählt zu jenen Komponisten, die vom zeitgenössischen Publikum verstanden werden,. Das macht ihn in den Augen vieler verdächtig. Sind doch heute vor allem jene Tonsetzer en vogue, die mit der Tradition so radikal brechen, daß ihnen der geneigte kritische Betrachter nur eine Chance im Übermorgen geben kann.

Zu einer Zeit, da sich des avantgardistischen Herrn Rezensenten keiner mehr erinnert.

Britten ist da solider, weniger aufregend, dafür erfolgreicher. Er schreibt nicht für die Ewigkeit, auch wenn er – als Komponist durchaus pflichtgemäß – an sie denken mag. Er schreibt für die Zeit, in der er arbeitet, in der wir leben. Das soll man zu gering nicht schätzen. Dann mag man auch das War Requiem, eine Totenmesse zur Erinnerung an den letzten Krieg, richtig einstufen. Es wurde geschrieben zur Einweihung der Kathedrale von Coventry, die mitsamt der ganzen Stadt eingeäschert worden ist. Es wurde geschrieben, um vom Wahnsinn des Tötens und Vernichtens zur Erkenntnis des Lebens, des Menschseins zu führen. Ein Requiem des Friedens, der Versöhnung.

Thematisch gliedert sich dies wie folgt: Chor und Solosopran singen die lateinische Totenmesse, indes Tenor und Bariton die Zeitgeschichte in Versen von Wilfred Owen absolvieren, die Monologe und Reflexionen der Soldaten. Diese werden von einem Kammerorchester begleitet, das der Komponist hier selbst dirigierte.

Britten stößt, wie gesagt, aus aktuellem Anlaß nicht ins Allgemeingültige vor. Die Gesinnung steht über der Inspiration, die Redlichkeit über der Gestaltungskraft. Flacher Einfall, billige Instrumentationseffekte und der Hang zur Brillanz, die quasi zu Brittens weitherziger Ästhetik gehören, schließen indes das Aufkommen dichter Stimmung und ergreifender Passagen nicht aus. Und Britten wäre nicht der Musikant, der er ist, wenn er sein Publikum in wirkungsvollen Chorsätzen oder brisanten rhythmischen Sequenzen nicht zu packen verstünde. Man horcht öfter als einmal auf, auch beim zweiten Zuhören. Doch der Eindruck bleibt ohne Nachhall.

Geschlossen, intensiv die Aufführung im "Philharmonischen" sowohl durch das Orchester als auch durch die Chöre (Singverein und Sängerknaben, einstudiert von Wilhelm Pitz und Helmuth Froschauer), Istvan Kertesz heizt den großen Apparat mit allen Funken der Partitur mächtig an. Von den Solisten imponiert am meisten die ungekünstelt und spontan singende Sopranistin Heather Harper mit ihrem Qualitätsorgan und einem selbstverständlichen Espressivo. Dietrich Fischer-Dieskau sang so kultiviert, daß man lange nicht gewahr wurde, welcher Sprache er sich bediente, und blieb im Dramatischen wie üblich Klangvolumen schuldig. Sein stilistisch ebenbürtiger Partner Peter Pears klang oft lyrischer, als es die Musik vorsieht..

Das Publikum, spürbar ergriffen, spendete allen Mitwirkenden, dem sympathischen Britten an der Spitze, lange Beifall.

Herbert Schneiber

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