Zum Opernabend am 30. September 1964 in Berlin


    

     Die Welt, 3. Oktober 1964     

   

Vielfalt szenischer Mittel und Stile

"Die Zauberflöte" der Deutschen Oper Berlin in Sellners Regie

  

Es ist der besondere Gewinn dieser Aufführung, der "Zauberflöte" in der Deutschen Oper Berlin, daß in ihr die Musik oft so entscheidend zum Tragen kommt. Karl Böhm und das Orchester der Deutschen Oper musizieren einen Mozartstil von leuchtender Transparenz, der auch die Singstimmen eindeutig dominieren läßt.

Nicht gleichwertig besetzt war das Ensemble der singenden Darsteller. Die Zentralgestalt auf der Bühne hätte Sarastro werden können, wenn Josef Greindl stimmlich besser disponiert gewesen wäre. So war es vor allem Dietrich Fischer-Dieskau, der in der Szene des Sprechers alle Bürde und den geistigen Adel des Humanitätsgedankens aufs eindringlichste spürbar werden ließ.

Evelyn Lear fand (bei mitunter etwas herber Intonation) schöne Pianotöne für die Partie der Pamina, zumal in der g-Moll Arie, und fesselte durch lebendiges, ausdrucksvolles Spiel. Donald Grobe war ein temperamentvoller, aber in Umfang und Timbre seines Tenors leicht gehemmter Tamino. Bella Jasper als Königin der Nacht blieb ohne Ausstrahlung. Stimmlich gut besetzt waren die drei Damen mit Annabelle Bernard, Kerstin Meyer und Sieglinde Wagner, während man sich für die drei Knaben weniger kompakte Stimmen (und Gestalten) gewünscht hätte. Manfred Röhrl als etwas derber Papageno, Lisa Otto als quicklebendige Papagena und Martin Vantin als beweglicher Monostatos sowie James King und Hanns Heinz Nissen als die beiden Geharnischten ergänzten das Ensemble, für das in der zweiten Premiere eine neue Besetzung vorgesehen ist. Prächtig klangen die Chöre Walter Hagen-Grolls, der von Karajan eingeladen wurde, sämtliche Choreinstudierungen der Salzburger Festspiele 1965 zu übernehmen.

Gustav Rudolf Sellners kluge, phantasievoll mit den Möglichkeiten des modernen Theaters spielende Regie erreicht nicht ganz die Plastik und Ausgewogenheit von Böhms musikalischer Leitung. Der Regisseur ließ sich – ebenso wie sein Bühnenbildner Jörg Zimmermann – offenbar von der Vielschichtigkeit des Werkes dazu verleiten, eine schillernde Vielfalt szenischer Mittel und Stile ins Spiel zu bringen. Realismus und Symbolismus, Barock und Moderne, Zauberspiel und Maschinentheater werden zu dekorativer Wirkung aufgeboten, aber es gelingt nicht, das Vielfältige zu organischer Einheit zu verschmelzen und den naiven Märchenton – wenn schon nicht direkt zu treffen (was heute wohl kaum mehr möglich ist), so doch auf höherer Ebene bewußter Formung neu zu gewinnen.

Die Symbolik wächst nicht von innen heraus, sondern sie wirkt von außen hineingetragen. Geradezu als eine Anleihe bei Bayreuth erscheint die kreisrunde Scheibe, die Sellner für alle Szenen beibehält, anfangs gar durch eine überlebensgroße Schlange, die sie umrahmt, als magischen Zirkel deutet, ohne ihr diese Funktion im weiteren Verlauf lassen zu können. Eine stilfremde, eigentlich sinnlose, auch optisch unbefriedigende Lösung, die dem Reichtum des Werks nicht gerecht wird und die Spielfläche einengt oder zu dekorativer Massierung verleitet (wie beim Priesterchor).

Sellner stilisiert seine Inszenierung eindeutig auf den Sieg des Guten hin, die im Sonnenreich Sarastros zum optischen Symbol wird. Das Element volkstümlicher Verspieltheit, zumal in den Papageno-Szenen, ist wohltuend gedämpft, aber die Mächte der Finsternis, vor allem die Auftritte der Königin der Nacht, bleiben dramatisch unterbelichtet. Hier ist auch dem Bühnenbildner nicht eben viel eingefallen, der das Prinzip seiner Salzburger Ausstattung (herabgleitende Soffitten, Verwandlungen bei offener Bühne) leicht variiert, mitunter etwas geräuschvoll und aufwendig, manchmal aber auch recht dünn. Berlin wäre einer neuen Konzeption wert gewesen.

Heinz Joachim


   

     Der Tagesspiegel, Berlin, 2. Oktober 1964     

   

Glorifizierung eines Theatermärchens

Gustav Rudolf Sellners Neuinszenierung der "Zauberflöte" in der Deutschen Oper

[...]

Gustav Rudolf Sellner, der die "Zauberflöte" in der Deutschen Oper inszenierte, hat vor Jahren eine revolutionäre, zeitgerechte Deutung des Werkes auf die Bühne gestellt: heute gibt er eine Glorifizierung des Schikanederschen Theatermärchens, die das Volkstümliche zur Würde des großen Operntheaters erhöht. Durch den Verzicht auf Problematik aber gewinnt seine Konzeption eine Kraft und Geschlossenheit, die alle Fragen gegenstandslos macht; als "Zauberflöten"-Inszenierung der Deutschen Oper Berlin, als Beispiel dessen, was ein großes Institut heute aus dem Vermächtnis der Klassik machen kann, hat die Aufführung unantastbaren Wert und Rang.

Jörg Zimmermann, der Bühnenbildner der Salzburger "Zauberflöte", hat auch der Berliner Aufführung das Dekor gegeben. Er hat die billige Phantastik der Festival-Szenerie zu einer eindringlichen Vision konzentriert. Kulissen schweben sichtbar hin und her und grenzen den Märchenschauplatz in vielgestaltigen Verwandlungen ab. Eine runde Scheibe ist die Bühnenmitte; sie ist der Talgrund, den der Leib der Riesenschlange, ihr böses Haupt gegen den furchtsamen Tamino erhebend, umrundet; sie ist der geweihte Boden, auf dem die Priesterschaft Sarastros ihre Lobgesänge der Humanität anstimmt. Blaugrünes Felsengebirge oder phantastisches Baumgeschlinge umrahmen die Szene; Tore und Treppen der Tempel sind ruinenhaft schräg in die Landschaft gestellt, der Kontrast von Dunkel und Licht wird zu fließend schattierter Dämmerung gedämpft. Gustav Rudolf Sellners Regie erstrebt die Synthese von Wort und Ton, die das Geheimnis der Zauberflöten-Inszenierung ist. Wie schwer es ist, die Dialoge mit zum Teil ausländischen Sängern zu bewältigen, braucht nicht gesagt zu werden. Es gab geradezu virtuos gestaltete Szenen wie den Bericht der drei einander das Wort aus dem Mund nehmenden Damen vom Raube Paminas. Später schien der Sprachregisseur Sellner zu resignieren; es gab schmerzliche Striche im Dialog, die naturgemäß auch einen Verlust an komödiantischem Leben bedeuteten. Aber aus beidem, aus Erfüllung und Verzicht ergab sich am Ende doch ein großartiger, musikgemäßer Aufführungsstil. Diese Inszenierung, mag über viele Details zu streiten sein, mag das Spielelement nicht nur der Papageno-Szenen gar zu sehr reduziert worden sein, gab uns das, worauf wir seit langem warteten: Operntheater aus derm Geist der Musik.

Karl Böhm, der erfahrene, durch stürmischen Beifall ausgezeichnete Mozartdirigent, war der wissende, die Mysterien der Partitur enthüllende Inspirator des Abends. Vom ersten Adagio der Ouvertüre an war der Ton ernster oder heiterer Feierlichkeit, der für die Zauberflöten-Musik charakteristisch ist, getroffen; ruhige Zeitmaße, wie sie auch Furtwängler nahm, ließen ihn ausschwingen. Die milden, von Posaunen und Bassethörnern beschatteten Klangfarben der Partitur kamen zu schönster Geltung; der weiche oder nervig akzentuierte Streicherklang mischte sich mit den Bläserstimmen, der zarten Oboe und dem dämonischen Fagott, das Glück des Mozartklangs wurde Wirklichkeit. Hervorragende Sänger wuchsen unter der Hand des Dirigenten zum ausgeglichenen Mozart-Ensemble zusammen. Evelyn Lears intelligent und feinfühlig gestaltete, durch den Wohllaut hoher Töne bestrickende Pamina. Donald Grobes jugendlich-lyrischer, die stimmliche Expansion durch Temperament ersetzender Tamino, Josef Greindls gewichtiger, in Wort und Ton ausgeglichener Sarastro waren eine Elite, der die recht etüdenhaft singende Bella Jasper als Königin der Nacht, der etwas steife, von seiner Partnerin Lisa Otto an Charme und Temperament übertroffene Manfred Röhrl als Papgeno und Martin Vantin als Monostatos in einigem Abstand nachfolgten. Die Ensembles der Damen (Annabelle Bernard, Kerstin Meyer, Sieglinde Wagner) und der Knaben (Barbara Vogel, Helga Wisniewska, Yonako Nagano) machten die graziöse, schwebende Dreistimmigkeit ihrer Sätze zum Erlebnis, das Oktaven-Duett der Geharnischten (James King und Hanns Heinz Nissen) hatte imposanten Klang. Einer verdient besondere Erwähnung: Dietrich Fischer-Dieskau machte die kurze Szene des Sprechers zum Brennpunkt des inneren Geschehens. Wie er, unnahbar überlegen, dem fordernden Tamino an der Schwelle des Heiligtums entgegentrat, wie er den hilflos Aufbrausenden durch leise, bohrende Fragen in die Enge trieb und ohne Antwort zurückließ: in dieser einen Szene war die Läuterung des Suchenden schon vollzogen; das Mysterium der "Zauberflöte", um das Prospekte und Maschinen des Theaters so oft vergebens bemüht werden, war im Wort eines großen, unbegrenzt ausdrucksmächtigen Sängers evident.

Werner Oehlmann


   

     Telegraf, Berlin, Datum unbekannt     

     

Prominenz auch in Nebenrollen

"Die Zauberflöte" in der Deutschen Oper Berlin

[...]

Daß der Regie Gustav Rudolf Sellners, der die letzte Mozart-Oper in seinem Haus als Festspielbeitrag brachte, eine das Ganze einheitlich umfassende künstlerische Intuition zugrunde lag, läßt sich kaum sagen, so gelungen manche Einzelheiten auch waren. Problematisch war gleich das erste Bild. Die Musik – hier wird Mozart einmal programmatisch – gibt deutlich das Sichnähern der Schlange. Sellner legt sie als schwer bewegliches Untier von ungeheuren Dimensionen auf die Bühne. Tamino flieht nicht vor ihr, sondern springt in die Mitte des von ihrem Körper gebildeten Kreises. Dafür mag man irgendwelche symbolistischen Erklärungen haben; zur Musik steht diese Lösung in direktem Widerspruch. Daß Papageno das getötete Riesenreptil übersieht und sich in voller Ahnungslosigkeit auf seinem Kopf niederläßt, ist ein recht billiger Gag, der sich ebenfalls nur durch eine abstrakte allegorische Deutung rechtfertigen läßt.

Die Bühnenbilder Jörg Zimmermanns vermeiden erfreulicherweise ein abstraktes Einerlei; sie füllen die Szene phantasievoll mit üppigen Pflanzen, düsteren Felsen und Tempelarchitekturen, die freilich der Priesterschaft mehr einen aufklärerischen als einen mystischen Charakter zugestehen.

Karl Böhm, der überlegene, wissende Mozart-Interpret, entwickelte vom Dirigentenpult aus ein wärmendes, durchsichtiges, sorgsam abgestimmtes Klangbild.

Donald Grobe sang den Tamino mit seinem schönen, weichen Tenor, wenn auch nicht überall mit voller gestalterischer Bewältigung seiner Partie. Daß sich in der Bildnisarie ein sich steigerndes psychisches Geschehen vollzieht, wurde beispielsweise nicht deutlich. Die vielseitige Evelyn Lear konnte auch als Pamina mit ihrer hohen Stimmkultur überzeugen; anfangs befangen, fand sie später bewegende Töne. Josef Greindl charakterisierte den Sarastro mit schlichter Hoheit und Güte.

Als Königin der Nacht präsentierte Bella Jasper scharf und gekonnt ihre Koloraturen; es fehlte ihr jedoch an Dämonie und fanatischem Machtstreben; als Gesamtpersönlichkeit war sie nicht die große Gegenspielerin des Sonnenreichs. Manfred Röhrl war ein verschmitzter, geradezu liebenswürdiger Papageno, der sich mit dem Horizont seines naiven Empfindens bescheidet und dessen Komik niemals ins Triviale oder Groteske hinüberglitt. Als Papagena sekundierte ihm mit munterer Drolerie Lisa Otto.

Zu den Pluspunkten des Abends gehörte die Besetzung von "Nebenrollen" mit Sängern aus dem Kreis der Prominenz. Dietrich Fischer-Dieskau erreichte als Sprecher in seiner dramaturgisch und musikalisch bedeutungsvollen Szene ungewohntes, höchstes Niveau. James King setzte seinen Tenor mit starker Intensität für den ersten Geharnischten ein, grundiert von dem Baß Hanns Heinz Nissens. Recht spielfreudig und in guter klanglicher Übereinstimmung zeigten sich die drei Damen Annabelle Bernards, Kerstin Meyers und Sieglinde Wagners. Martin Vantins Mohr Monostatos hatte individuellere Züge, als es gemeinhin der Fall ist. Die Knaben, aus der Höhe einer schwankenden Wolkengondel eingreifend, wurden von Barbara Vogel, Helga Wisniewska und Yonako Nagano mit klaren Stimmen gesungen.

Das Publikum, schon nach einzelnen Arien beifallsfreudig, dankte am Schluß den Sängern und dem leitenden Team anhaltend und herzlich.

Karl Rehberg


    

     Süddeutsche Zeitung, 2. Oktober 1964     

    

Sellners Festspiel-Zauberflöte

Die Mozart-Oper in Berlin aufgeführt

[...]

Man spürt, daß sie aus lauter Angst und Ehrfurcht dann kein freies Verhältnis mehr zu der Musik gewinnen können. Donald Grobe war immerhin im Spiel und in den Rezitativen ein einigermaßen eindrucksvoller Tamino. Bella Jasper, die ihre spitzen Töne mit der musikalischen Akkuratesse einer chinesischen Nachtigall "brachte", vermittelte von dem musikalischen Seelenradius der Königin der Nacht kaum einen Hauch. Demgegenüber war Josef Greindls manchmal überlegen heiterer, manchmal aber auch etwas zu platter Sarastro weit akzeptabler, Evelyn Lears Pamina bestach durch Gesangskultur. Die drei Damen, die drei Knaben, der lustige Papageno und die Geharnischten hatten durchaus Berliner Format.

Aber sie alle verblassen vor Dietrich Fischer-Dieskau. Viele Musikfreunde sind ja mit Recht traurig, wenn dieser Künstler sich in eine wild-heitere oder gar blutig-dramatische Opernrolle verwickelt. In Sellners "Zauberflöte" sang er den Sprecher, also jenen Priester, der den Pamino empfängt, ihn an der Königin der Nacht irremacht, ernsthaft belehrt und entläßt mit der fast alle übrige Musik zum verschwinden bringenden a-Moll-Wendung: "Sobald Dich führt der Freundschaft Hand". Dieser Auftritt dauert wenige Minuten. Durchschnittshörer bemerken ihn in Durchschnittsaufführungen oft gar nicht. In Berlin wurde das Gespräch zum Höhepunkt. Die überwältigende Ernsthaftigkeit Fischer-Dieskaus, die Gescheitheit seines Phrasierens und die erfüllte Freiheit seines Vortrages waren ein Miniaturwunder. Plötzlich entstand Magie. Und jenseits des Horizontes dessen, was Menschen und Opern möglich ist, dämmerte die Utopie einer vollendeten Aufführung der "Zauberflöte".

Joachim Kaiser

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