Zum Konzert am 14. Juni 1964 in Wien

Kurier, Wien, 15. Juni 1964  

Ein bewegendes "Lied von der Erde"

Gestern im Musikverein: Symphoniker, Krips, Wunderlich und Fischer-Dieskau

Es ist Mahles populärstes Werk, dieses "Lied von der Erde", häufiger gespielt als jede seiner Symphonien und den Musikliebhabern besser im Ohr als so manches klassische Opus. Das mag zur Einstimmung des Publikums förderlich sein, schraubt freilich auch den Anspruch auf allerhöchste Gipfel, was die Wiedergabe anlangt.

Diese Gipfel wurden im Sonntagvormittagskonzert der Wiener Symphoniker unter der Leitung von Joseph Krips durchwegs erklommen. Der Dirigent, mit der Musik auch vom Herzen her vertraut, konnte mehr als eine nur brillante Aufführung bewerkstelligen. Sein Temperament, seine Intensität, seine Erlebniskraft teilten sich dem aufmerksam spielenden Orchester unmittelbar mit. Das Ergebnis war betörender Wohlklang von reichster Differenzierung, delikates Formulieren unterschiedlichster Stimmungen, Prägnanz im federnden Rhythmus und ein durchaus flüssiges Pathos, schlank im Klang, in Heiterkeit und Wehmut. Eine sehr poetische Aufführung.

Die ideale Solistenbesetzung krönte das Gelingen: Fritz Wunderlichs kostbare Tenorstimme hat das lodernde Feuer für das Lied des Trunkenen ebenso zu Gebot wie die zarte Anmut für den behutsamen Umgang mit chinesischem Porzellan. Und Dietrich Fischer-Dieskau, dieses Wunder von einem wahrhaft nachschaffenden Künstler, lebt jede Phase und Phrase seines Vortrags bis zur Ausdrucksfärbung der Vokale mit, bis zur völligen Verschmelzung von Interpret und Werk. Man vergaß darob sogar, um den gewohnten Klang einer Altstimme zu trauern, die zumal im letzten Lied (der freilich ein Abschied unter Männern ist) berückendere Melancholie zu verströmen vermag als jeder Bariton.

Zu Beginn des Konzertes wurde Schuberts "Unvollendete" gespielt, wodurch die Matinee zu einer Pause kam. Am Ende gab es voll orchestrierten Beifall von außerordentlicher Länge.

Herbert Schneiber

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