Zum Konzert am 30. Mai 1963 in Berlin

Tagesspiegel, Berlin, 2. Juni 1963

Prospero und Jedermann

Neue Musik bei den Philharmonikern – Klavierabend Schlesier

Shakespeare und Hofmannsthal sind die Anreger, der Zauberer Prospero, der weise, resignierte Held des Spätwerkes "Der Sturm", und Jedermann, der vom Tod Gezeichnete, zwischen Grabesangst und Erlösungshoffnung hin und wider Getriebene sind die Gestalten, die Frank Martins Musik beschwört. Es geht diesem Komponisten um extreme, tragische Situationen, um Stoffe und Erlebnisse auf der Kulturebene der großen Dichtung, und der tiefe, ehrfürchtige Ernst, mit dem er die literarischen Vorwürfe nachformt, gibt seiner Musik den Stil. Frank Martin vertrat als fünfter und letzter dirigierender Komponist dieser Spielzeit bei den Philharmonikern die "Musik des zwanzigsten Jahrhunderts", und sein Abend im Hochschulsaal hinterließ einen starken Eindruck, zumal in Dietrich Fischer-Dieskau ein Interpret der Gesänge zur Verfügung stand, der den verhaltenen Ausdruck der lyrischen Monologe ins Dramatische steigerte und den pathetischen Stil der Sprachmelodie mit großem Atem erfüllte.

Die musikalischen Mittel, deren Martin sich bedient, umfassen einen weiten stilistischen Bezirk, ohne daß darum von Eklektizismus oder Unklarheit gesprochen werden könnte; die Persönlichkeit des Komponisten gibt jeder Wendung eigenen Klang. Ist in den Stücken, aus der 1956 uraufgeführten Shakespeare-Oper in der pastosen Akkordik, im feingetönten Kolorit, im lyrischen oder buffonesk-phantastischen Charakter der Thematik der Nachhall der Romantik spürbar, so sind die etwas älteren und zweifellos bedeutenderen "Jedermann"-Gesänge in einem herben, holzschnittartigen klassizistischen Satz gehalten, dessen Kargheit das Wort und seinen religiösen Gehalt ergreifend zur Wirkung bringt; in schlichter, gleichsam mittelalterlicher Sprache wird das Sterben des reichen Mannes nacherzählt.

[...]

Oe

    

     Berliner Morgenpost, 1. Juni 1963     

    

Sturm im Konzertsaal

Frank Martin dirigierte – Klavierabend Raimund Schlesier

    

Für die Abonnenten und Freunde der Reihe "Musik des 20. Jahrhunderts" dirigierte Frank Martin die Philharmoniker im Hochschulsaal.

Das Programm enthielt nur Werke des Komponisten Frank Martin: die jetzt auch für Orchester vorliegende "Passacaglia", die Ouvertüre und zwei Gesänge der 1956 in Wien uraufgeführten Oper "Der Sturm" (nach Shakespeare), sechs Monologe aus "Jedermann" (nach Hofmannsthal) und das Konzert für sieben Bläser und Streichorchester. Der Komponist Martin schreibt bei lyrisch-epischer - fast möchte man sagen: spätromantischer – Grundhaltung farbige, wohlklingende Musik, die durch klare Durchsichtigkeit besticht, den Hörer zum Mitdenken zwingt, ihn aber nie überfordert.

Der Dirigent Martin, gebürtiger Schweizer und von kultivierter Noblesse, kennt keine harten und eckigen Bewegungen. Er weiß, welches empfindliche, auf Andeutung prompt reagierende Instrument er mit den Philharmonikern in der Hand hat. Martin befiehlt nicht, er vertraut auf das sichere Stilempfinden des Orchesters, und dieses revanchiert sich für das Vertrauen mit hingebungsvoller Musizierfreude. Die Bariton-Soli sang Dietrich Fischer-Dieskau. Die Bewältigung der (Schlegelschen) Shakespeare- und Hofmannsthal-Texte in der musikalisch schwierig gebundenen Form ist eine eminente Leistung. Fischer-Dieskaus Gestaltung des dritten "Jedermann"-Monologs etwa mit der erschütternden Zeile "Hilf Gott, daß es nit meine Mutter war", muß als vollkommen gelten.

Das Konzert für sieben Bläser und Streichorchester bereitete den Philharmonikern und ihrem distinguierten Gast am Pult gleichermaßen Freude. Der Beifall für Frank Martin, Dietrich Fischer-Dieskau und das Orchester steigerte sich bis zu Bravo-Rufen.

H. F.

    

     Der Abend, Berlin, 31. Mai 1963     

    

Martin meint es ernst

Philharmoniker im Hochschulsaal

    

Mit dem persönlichen Erscheinen des Genfer Komponisten Frank Martin am Pult der Philharmoniker endete deren Konzertreihe "Musik des 20. Jahrhunderts". Der Gast dirigierte mit großem Erfolg vier eigene Werke.

Was dem Komponisten die betonte Sympathie des Publikums im Hochschulsaal gewann, ist der tiefe Ernst seines Musizierens, seine herbe Ausdruckskraft, die Bindung an feste Formen. Für seine Vokal-Werke wählt er Dichtungen, in denen von den letzten Dingen die Rede ist: Prospero-Worte aus Shakespeares Altersdrama "Sturm" und Monologe der inneren Läuterung aus Hofmannsthals "Jedermann".

Der 72jährige Martin wirkt um zehn Jahre jünger. Die Philharmoniker folgten ihm voll Leistungsfreudigkeit durch die Neufassung der "Passacaille" und durch das Konzert für Bläser, Streicher, Schlagzeug.

Ein Sänger-Begleiter ist Martin jedoch nicht. Jeden anderen als Dietrich Fischer-Dieskau hätte das unabgedämpfte Orchester-Forte zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Dieser Meistersinger aber, stimmlich so gut disponiert wie selten, gestaltete die Wort-Ton-Einheit der Gesänge trotzdem mit einer inneren Erfülltheit und Würde, für die ihm auch der Komponist zu Dank verpflichtet ist.

W. S.

    

     Kurier, Berlin, 31. Mai 1963     

    

Abschlußkonzert der "Musik des 20. Jahrhunderts"

Komponiert mit strengem Ernst

    

Das kompositorische Lebenswerk Frank Martins ist der deutschen Öffentlichkeit erst nach dem Kriege bekannt geworden. Als Dirigent eines Konzertes mit dem Philharmonischen Orchester trat der heute 73jährige Schweizer für vier charakteristische Werke aus seinem vielseitigen Schaffen ein.

Er macht es den Hörern nicht leicht. Ein unerbittlicher Ernst, den man versucht ist, mit seiner Herkunft aus einem calvinistischen Pfarrhaus zu begründen, ist das primäre Kennzeichen seines Stils. Die kontinuierliche Bewegungsform der Passacaglia ergibt bei ihm einen feierlich schreitenden Charakter, der sich trotz allem Wechsel der klanglichen und harmonischen Kombinationen mit unausweichlicher Kraft durchsetzt.

Die Zauberwelt des shakespeareschen "Sturm" beschwört er mit Ausdrucksmitteln, die weder pathetisch noch illustrativ zu nennen sind. Prosperos milde Majestät, der seine Geister zu "luftiger Magie" und "himmlischer Musik" beordert, der am Ende sich aller Zaubermacht entledigt – das ist ein Thema, das den Komponisten viele Jahre beschäftigte.

Die Monologe aus Hofmannsthals "Jedermann", liedhaftere Gebilde, die von den letzten Dingen: Todesangst, Reue und christlicher Gnadenhoffnung eindringlich sprechen, waren in Berlin schon zu hören. Dietrich Fischer-Dieskau machte sie, ebenso wie die Worte des Prospero, durch seine suggestive Vortragskunst zum neuen Erlebnis.

Ein dreisätziges Konzert für sieben solistisch eingesetzte Bläser, Streicher und Pauken, mit dem das Programm abschloß, bewegt sich in vergleichsweise heiteren Bahnen. Die barocke Form ist zwar überall das Leitbild, aber ohne allzu scholastische Strenge. Im zweiten Satz finden sich groteske Momente, im letzten triumphiert ein Marschrhythmus über synkopierte und dreitaktige Tanzformen.

Das Auditorium ehrte den Gast und seine Helfer, Fischer-Dieskau und die bravourösen Philharmonischen Bläsersolisten, mit starkem Beifall.

K-r

    

     Tele, Berlin, 1. Juni 1963     

    

Konzert mit Frank Martin

   

Bei den Philharmonikern war wieder ein Komponist zu Gast: der 73jährige, aus Genf stammende Frank Martin, dessen Schaffen uns verhältnismäßig spät vertraut wurde, dirigiert im Hochschulsaal eigene Werke, in denen er extreme Positionen vermeidet und die ohne Schwierigkeiten den Weg zu den Hörern finden.

Eine klar disponierte, zu großen Spannungen führende, ursprünglich der Orgel zugedachte Passacaglia für Orchester machte den Anfang und zeugte von der versonnenen, ernsten, edel empfindenden Natur ihres Schöpfers. Aus der Oper "Der Sturm" (nach Shakespeare) erklangen die Ouvertüre und zwei Gesänge, in denen die Dichtung eine klangliche Deutung von starker Intensität erhält. Auch für Monologe aus Hugo von Hofmannsthals "Jedermann", mit denen das Konzert nach der Pause weitergeführt wurde, bedeutet die musikalische Einkleidung das Aufbrechen hintergründiger seelischer Spannungen. Den Abschluß des Abends bildete das Konzert für sieben Bläser und Streichorchester. Obwohl es von dem Modell der barocken Konzertform ausgeht, ist dem Komponisten ein persönlich geformtes, inspiriertes Werk gelungen.

Für die vokalen Aufgaben war Dietrich Fischer-Dieskau mit seiner beschwörenden, ausdrucksstarken Interpretationsweise der ideale Solist. Frank Martin leitete die Philharmoniker nach Komponistenart mit einer Beschränkung seiner Forderungen auf das Wesentlichste.

K. R.

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