Zum Liederabend am 11. April 1963 in Essen

Westfälische Allgemeine Zeitung, 13. April 1963

Dicht an der Vollendung

Meisterkonzert Dietrich Fischer-Dieskau im Saalbau

Daß der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau ein großartiger Liedgestalter ist, braucht man heute niemandem mehr zu sagen. Der Kritiker befindet sich daher in der so wohltuenden wie seltenen Situation, einfach berichten zu können, was im Meisterkonzert des Sängers vor sich ging.

Fischer-Dieskau hat sein Publikum fest in der Hand. Er kann es sich leisten, während eines ganzen Schubert-Abends nur zwei, drei "Schlager", im übrigen aber weithin unbekannte Lieder des Meisters zu bringen. Daß er es tut, ist allein schon ehrenwert – es gibt bequemere Wege, Lorbeer und Applaus einzuheimsen. Und wie er es tut, das ist auf doppelte Weise faszinierend.

Ich frage mich nämlich, was weniger schwierig ist: selten gehörte, fürs Publikum "neue", auch in Ausdruck und Form spröde Lieder so zu gestalten, daß Gehalt wie Gestalt sogleich überzeugen – oder Bekanntem, Allzu-Bekanntem den ursprünglichen Hauch von Frische und Unmittelbarkeit noch einmal aufzuprägen. "Erlkönig", "Der Musensohn", "Ständchen": Was kann man ihnen, den tausendmal gehörten, noch abgewinnen? Nun, Fischer-Dieskau kann es, weil er sich mit dem ersten Sänger der Lieder, dem verkrachten Wiener Vorstadt-Schulmeisterlein mit dem weiten Herzen identifiziert, weil er die Lieder im Augenblick des Erklingens neu erschafft.

Ebendies ist auch der Grund, weshalb die anderen Gesänge, die uns so selten einer im Konzertsaal bringt, auf Anhieb packen, "Gruppe aus dem Tartarus", "Heliopolis", "Die Sterne" etwa. Gewiß wird der musikalische Ablauf von einem ungewöhnlichen Kunstverstand haargenau kontrolliert. Doch da ist zugleich echte Naivität, Sentiment, Schwermut und verschleierter Humor ("Der Einsame"), Temperament und alles in allem eine Persönlichkeit. Übers "Technische" braucht man bei diesem Sänger kaum zu reden, die ungewöhnlich warme und große Stimme "sitzt" hervorragend. Allerdings fielen mit diesmal flache Ansätze im Mezzo auf. Bei kleineren Geistern würde man’s nicht erwähnen – aber sollten große Opernrollen mit der Intimität des Liedes eben doch unvereinbar sein?

Jedenfalls waren die Zwölfhundert im Saalbau mit Recht begeistert, mehr noch: sie waren angerührt. Der lange, stürmische Beifall, der auch dem vorzüglichen Begleiter Günther Weißenborn zu gelten hatte, zwang dem Sänger mehrere, mit der gleichen Intensität wie das eigentliche Konzert gestaltete Zugaben ab.

Dr. Günter Engler

    

     Westfalenpost, Hagen, 16. April 1963     

   

Jedes Lied ein Kabinettstück

Dietrich Fischer-Dieskau sang in Essen ein Schubert-Programm

   

Dietrich Fischer-Dieskau widerlegt die These, daß der Liederabend tot ist. Bei ihm reicht der Terminkalender nicht annähernd für die Nachfrage aus. Deshalb hörte man ihn in diesem Winter nur in einem einzigen Konzert im Revier, im Essener Saalbau. Der Künstler bot ein Schubert-Programm, bekannte Lieder in guter Mischung mit selten gehörten, weil der denkende Sänger Fischer-Dieskau aus dem ganzen Reichtum der mehr als 600 Klavierlieder Schuberts schöpft und sich nicht auf die zwei Dutzend gängiger Titel beschränkt.

In unverändert sängerischer Form, überlegen und ganz der jeweiligen Aufgabe hingegeben, machte er aus jedem Lied ein Kabinettstück. Am deutlichsten wird das bei der Gestaltung geläufigster Gesänge, zumal wenn Fischer-Dieskau darin seine unvergleichlichen Pianobögen spannt. Ein Beispiel dafür mag "Im Abendrot" sein, nicht minder "Der Wanderer". Bezüglich der Auffassung werden bei Liedern wohl stets verschiedene Ansichten nebeneinander stehen.

"Der Erlkönig" wird zur dramatisch geformten Ballade, die von dem bewährten und auch ungemein anpassungsfähigen Partner am Flügel, Günther Weißenborn, nicht in allen Teilen mit letzter Vollkommenheit gespielt wurde. Damit dürfte die Klippe für den Liedgesang heute sichtbar werden: Die Langspielplatte hat inzwischen Maßstäbe gesetzt, die nur in Ausnahmefällen erreicht werden. Fischer-Dieskaus Erfolgsgeheimnis besteht darin, daß seine Stimme und sein durchdachter Vortrag zusammen mit dem schlichten, immer konzentrierten Auftreten im Konzertsaal noch stärker wirken als aus dem Lautsprecher, ja, daß der unmittelbare persönliche Eindruck jenen aus dem Lautsprecher verstärkt.

Ungewöhnlich ernst, fast reserviert absolvierte Fischer-Dieskau sein Liedprogramm und eine Folge von Zugaben hinterher. Angesichts dieser Haltung des Künstlers steigerte sich auch der herzliche Beifall erst nach und nach.

DHG

zurück zur Übersicht 1963
zurück zur Übersicht Kalendarium