Zum Konzert am 5. Juli 1962 in Göttingen

Göttinger Tageblatt, 7. Juli 1962

Glanzvoller Abschluß der Händeltage

Italienische Kantaten mit Agnes Giebel und Dietrich Fischer-Dieskau

Den krönenden Beschluß des diesjährigen Händelfestes bildete der Abend mit italienischen Kantaten. Durch die Mitwirkung von Agnes Giebel (Sopran) und Dietrich Fischer-Dieskau (Baß) war hier ein Interpretationsniveau erreicht, das weit über allem Mittelmaß lag: Es war ein beispielgebender, wahrhaft "wesentlicher" Abend, der all denjenigen, denen es bei der Diskussion über den Sinn der alljährlich wiederkehrenden Göttinger Händeltage um ein möglichst bedingungsloses Ja geht, die denkbar besten Argumente in die Hand gab.

Im "Delirio amoroso" für Sopran, Kammerorchester und Continuo, jener ausdrucksgesättigten Klage der Chloris um den verlorenen Tirsis, fesselte Agens Giebel vom ersten Augenblick an durch die Vollkommenheit ihrer stimmlichen Mittel. Ob in der rezitativischen Deklamation oder im strömenden Melos der Arien, ob in Höhe oder Tiefe, in der verwegenen Koloratur oder dem langgedehnten Triller – hier gab es keine Schwächen, keine Unebenheiten, keine Anzeichen von Mühe. Um nichts weniger vollendet war die Nachgestaltung des Wortes: trotz "oratorischer" Verhaltenheit, der es näher liegt, Leidenschaft anzudeuten statt sie unmißverständlich auszuspielen, blieb nichts ungesagt, wobei nun allerdings hinzuzufügen ist, daß die Musik Händels, des geborenen Dramatikers, jeden Affekt, die Haltung der klagenden Chloris auf jeder Stufe zwischen Verzweiflung, hoffender Sehnsucht und Ergebung durch charakteristische Wahl von Tempo, Rhythmus, Thematik und Klangfarbe denkbar scharf umreißt.

In der nach Ausdehnung und Besetzung weniger aufwendigen Kantate "Della guerra amorosa" für Baß und Continuo erwies sich Dietrich Fischer-Dieskau als ein Ausdrucksmeister allerersten Ranges. Zwar bildete eine dem vergleichsweise intimen Charakter des Werkes angemessene Sparsamkeit im Gebrauch gestalterischer Mittel die Grundlage; innerhalb dieser Grenzen aber, die nur gelegentlich durch opernhafte musikalische Gesten wirkungsvoll überschritten wurden, offenbarte sich ein faszinierender Reichtum an Zwischentönen, in dem sich zugleich die ungewöhnliche technische Souveränität dieses Sängers bekundete – die Präzision und Beweglichkeit der Koloraturen und Triller standen entschieden schon jenseits dessen, was man von einem Baß normalerweise erwarten darf.

Der Abend gipfelte in der Kantate "Apollo e Dafne" für Baß, Sopran, Kammerorchester und Continuo, für welche die Besetzung mit Agnes Giebel und Fischer-Dieskau nicht nur unter rein musikalischen Gesichtspunkten, sondern auch vom Standpunkt der Rollencharakteristik aus ein absoluter Glücksfall war. Als siegesgewohnter und allzeit triumphierender, dann jedoch von "heißen Liebesflammen" heimgesuchter Gott Apoll entfesselte Fischer-Dieskau hier die ganze Macht des ihm zu Gebote stehenden, in der "Guerra amorosa" noch zurückgehaltenen Forte, von dem sich dann die lyrische Intensität etwa des "Como rosa" oder "Cara pinata" umso eindringlicher abhob. Als widerstrebende, der Diana die Treue haltende Nymphe bot Agnes Giebel allen Schmelz, das ganze edle Raffinement ihres Soprans auf. Stücke wie das klanglich überaus aparte "Felicissima quest’alma" oder "Come in ciel" waren Glanzpunkte.

Für die instrumentalen Aufgaben standen in Eva Friedland (Flöte), Helmut Winschermann und Gisela von Lüpke (Oboen), Terebesi (Violine), Gunhild Münch-Holland (Gambe), Eugen Müller-Dombois (Laute), Irmgard Poppen und Jacoba Muckel (Violoncello) und Theo von Schoen (Kontrabaß) Solisten zur Verfügung, die für eine den ungewöhnlichen Gesangsleistungen angemessene Begleitung die beste Gewähr boten. Vorzüglich wieder die sauber, dynamisch reagibel und rhythmisch präzise spielenden Streicher des Südwestdeutschen Kammerorchesters.

Der Beifall wollte selbst dann noch kein Ende nehmen, als das Orchester den Saal verließ. Er konzentrierte sich auf Agnes Giebel und Dietrich Fischer-Dieskau sowie auf Günther Weißenborn, der die musikalisch bis ins letzte durchdachte Aufführung vom Cembalo aus geleitet hatte.

M. W.


   

     Göttinger Presse, 7. Juli 1962     

   

Italienische Kantaten

Krönung der Händeltage mit Dietrich Fischer-Dieskau und Agnes Giebel

    

Rhythmischer Applaus, Ovationen und wohlwollendes Getrampel erfüllten die Aula nach der Abwicklung der diesjährigen Händeltage. Der Beifall galt dabei weniger der Idee der Göttinger Händelbewegung, als vielmehr dem Schlußkonzert, dessen Niveau – dank dem gestalterischen Zauber der zwei prominenten Solisten – die vorangegangenen Veranstaltungen weit übertraf. Außerdem lernte man in den aufgeführten Werken drei der bedeutendsten italienischen Kantaten Händels kennen.

Die Kantate "Delirio amoroso" – Liebeswahn – ist wie eine Miniaturoper, deren subtile Satztechnik in bestem Einklang mit der feinen, an Dantes Purgatorium anklingenden Handlung steht. Agnes Giebel, das "große Los" der Händeltage, entfaltete in der regelmäßigen Folge von Rezitationen und Arien eine hochkultivierte und bis ins Exzessive beherrschte Stimme. Das Perlenspiel der Triller und die gleichmäßig ausgehaltenen Töne gehörten zu den entwaffnenden Waffen der Sängerin, mit denen sie das Publikum dauerhaft eroberte.

Sie verdeutlichte ungezwungen auch den fein abgestuften Stimmungswechsel in den Arien. Von diesen enthält "Un’ pensiero" reiche Koloraturen und verlangt höchste Virtuosität (nicht zuletzt von der Solovioline, die Herr Terebesi, auch sonst ein ausgezeichneter Spieler, glänzend handhabte), während die andere Arie "Per te lasciai", zarte Lyrik ausströmt und mit ihren sanften Klängen an die Gambe und die Laute dankbare Aufgaben stellt (gemeistert von Gunhild Münch-Holland und Eugen Müller-Dombois). In der dritten Arie "Lascia omai" fiel die solistische Begleitung Eva Friedland (Flöte) zu, die sich durch ein sicheres und einfühlsames Spiel auszeichnete.

Kaum hatte man sich vom Bann dieses zauberhaften Werkes gelöst, als Dietrich Fischer-Dieskau kam, um uns in der "Guerra amorosa" – im Liebeskrieg - vor Amors Pfeilen zu warnen. Wie gern hört man selbst solche unnütze Warnung aus einem solchen Mund! Höchste Differenzierung in Gesang und Text kennzeichneten den Vortrag, - dazu eine fast keck anmutende Leichtigkeit in der technischen Bewältigung des – an sich recht blassen – Werkes, die die Interpretation auch optisch zum unüberbietbaren Kunstgenuß machte.

In der plausiblen Rolle Apolls sah man sodann den Bassisten in der Kantate "Apollo und Daphne", wo er mit Agnes Giebel zusammen eine zweite Höchstleistung zuwege brachte. Dies ist die traurige, doch nicht ungewöhnliche Geschichte eines jungen Mannes – ja, eines Gottes!, - der vom angebeteten Geschöpf nicht erhört wird. Der bald schmachtende, bald heftig erregte Dialog endet mit der Verwandlung Daphnes in einen Lorbeerzweig – eine Lösung, mit der sich Apollo ohne größere Verwunderung auch abfindet.

Dieses poetische Werk und der letzte Abend überhaupt entschädigten für das etwas planlose und – so will es scheinen – an den Haaren herbeigezogene Programm der beiden voraufgegangenen Tage. Daher noch einige Namen, die zur Schlußapotheose der Veranstaltungsreihe beitrugen: Günther Weißenborn, der sich als Cembalist und als Dirigent gleichermaßen bewährte, - der Oboist Helmut Winschermann mit anderen versierten Solisten, und nicht zuletzt das Südwestdeutsche Kammerorchester Pforzheim, mit dem die Spielleitung einen entschieden glücklichen Griff machte.

Händeltage 1962 – zum Teil löste der Titel nicht alles ein, was er versprach, zum Teil wurden die Erwartungen jedoch übertroffen durch namhafte Solisten, die man im Rahmen einer Konzertsaison schwerlich hätte erleben können. Für die Wahl dieser Solisten sollte man daher den Veranstaltern der diesjährigen Händeltage dankbar sein.

Dr. Kn.

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