Zum Konzert am 7. Juni 1962 in Wien

Kurier, Wien, 9. Juni 1962

Ergreifend wie eine Doktorarbeit

Im Musikverein: Die Amsterdamer und Jochum mit Bruckner

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Im ersten Teil des Abends sang Dietrich Fischer-Dieskau die sechs "Jedermann"-Monologe von Frank Martin, die nach meinem Wissen in Wien noch nicht in der Orchesterfassung zu hören waren. Diese trägt nicht unwesentlich dazu bei, die etwas trockene Diktion der Komposition nach der Seite des Kontrastes hin einzufärben. Der durchgehende Pietà-Charakter der Musik, von Martin vollkommener beherrscht als dem Stoff in solcher Konsequenz angemessen, fand in dem geübten Oratoriensänger Dieskau einen Idealinterpreten. Klarer, konzentrierter Vortrag und ausdrucksintensiver Stimmeinsatz kamen als weitere Positiva hinzu.

Fischer-Dieskau erntete stürmischen Applaus. Nach dem Bruckner gab es auch für Eugen Jochum und das Concertgebouw Orchester Beifall in großer Menge.

Herbert Schneiber

 

Die Presse, Wien, 8. Juni 1962     

   

Bruckner in "göttlicher Länge"

Letzter Abend des Concertgebouw-Orchesters unter Jochum

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Das Konzert begann mit Frank Martins "Jedermann-Monologen", die durch Dietrich Fischer-Dieskau vollendete Interpretation erfuhren. Dank seinem Ausdrucksvermögen und seiner vorbildlichen Textdeutlichkeit ist dieser begnadete Sänger – wie es in Hofmannsthals "Arabella" heißt – "der Richtige", um diese Musikskizzen zu verdolmetschen, die sich in stärkerem Maß der Sprachgebärde, als dem Bedeutungsinhalt der Dichterworte anpassen.

Die Wiederbegegnung mit dem Liederzyklus führt unwillkürlich zu Betrachtungen über dessen Lebensfähigkeit, die nicht die Kennzeichen florierender Blüte aufweist. Andererseits aber wäre es unrichtig, von einem Verwelken zu sprechen: kam doch diese Komposition schon blut- und vitaminarm zur Welt. So verbeugt man sich zwar respektvoll vor der Noblesse eines Musikidioms, unterdrückt aber gleichzeitig ein leises Gähnen über die Eintönigkeit, welche durch das permanente Schwanken zwischen Chromatik und alternierenden Begleitakkorden hervorgerufen wird,.

Mi

   

     N. Öst., 9. Juni 1962     

   

Martin und Bruckner unter Jochum

   

Martins Jedermann-Monologe dienen kaum der Überhöhung von Hofmannsthals Dichterwort, dessen herrliche Sprachmelodie einer Untermalung nicht bedarf. Aber diese gar nicht dramatischen, eher lyrisch-epischen Gesänge besitzen – auch ohne starke melodische Erfindung – ungewöhnliche Ausdruckskraft, sind gehaltvoll und verinnerlicht. Man blickt in die Seele eines Todgeweihten und bewundert die expressive Sprache einer großartig instrumentierten Musik. Eine musikdramatische Vertonung des "Jedermann" lag Martin sicher ganz fern, und so kann das Werk auch nicht zur Beurteilung seiner Berufung zum Opernkomponisten dienen. Dietrich Fischer-Dieskaus große, überragende Persönlichkeit ist es, die dieser vornehm-kühlen Musik erst ihre volle Überzeugungskraft und Wirkung leiht. Er ist einer der größten Sänger unserer Zeit und doch von bescheidener Unterordnung unter den Willen des Schöpfers. Ein seltenes Phänomen!

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Y.

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