Zum Liederabend am 22. Mai 1962 in München

  

     Süddeutsche Zeitung, München, 24. Mai 1962     

  

Der Metaphysiker Franz Schubert

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend im Herkulessaal

    

Es bedeutet weder Schönrednerei noch Übertreibung, einem Schubert-Abend der Liedkunst-Dioskuren Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore kulturhistorischen Rang zuzuschreiben und als Signal für ein verwesentlichtes, radikal entbürgerlichtes Verständnis des romantischen Originalgenies zu feiern. In einer von hohem Kunstverstand geleiteten Auswahl, die sich vom frühen "Erlkönig" bis zum "Schwanengesang" zog, und die romantische Dreiheit von Einsamkeit, Liebe und Tod umkreiste, wurde der Metaphysiker Franz Schubert aufgerufen, der melodische Philosoph des männlichen Herzens, der Tragiker im lyrischen Gewand, der Demiurg unheimlicher, von Nacht und Untergang umstellter Seelenlandschaften. Diesem "expressionistischen", Böswillige mögen sagen "intellektualisierten" Schubert war das Genrehafte genommen, das sentimentale Verniedlichungssucht dem Einsamen von Wien angedichtet hatte.

Gewiß geht Fischer-Dieskau vom Dichterwort aus und stellt die Bedeutung, die Vision, den Sinngehalt zuweilen über das Strömen der Kantilene, das er sehr wohl beherrscht, wie "Du bist die Ruh'" bewies, aber nicht durchweg zum Gestaltungsprinzip erhebt. Er zeichnet Gestalten, psychologisch ausgetüftelte Porträts: den "Wanderer", der mit dem ewigen Heimweh des unbehausten Romantikers durch eine Caspar-David-Friedrich-Landschaft zieht; den pfiffigen, verschmitzt selbstgefälligen "Musensohn", bei dem einem der Goethe der Frankfurter und Straßburger Zeit gegenwärtig wird; den Helden und Waffen absagenden Lyriker des "An die Leier" benannten Manifests des Gefühlskults; die vier Figuren der "Erlkönig"-Ballade, den Erlkönig, den Vater, den Knaben und den Erzähler. (Wie sich Fischer-Dieskaus Bariton hier in vier verschiedene Stimmen aufspaltete, vom Bass bis zum tenoralen Falsett, wie hier die "Dramaturgie" einer Ballade verdeutlicht wurde, das war als Intelligenzleistung wie als Virtuosenstück gleich bewundernswert.) Die düsteren, unheimlichen Visionen Schuberts verstand Fischer-Dieskau aufs Wort. Der Expressionismus der "Gruppe aus dem Tartarus", die ausweglose Schwermut des "Memnon", das grandiose Bild "Heliopolis", das für Schubert programmatische "Freiwillige Versinken" und die verhaltenen Trostklänge der "Sterne" wurden mit einem Äußersten an Ausdruck begriffen. Als Herzstück des Abends sei "An die Freunde" gefeiert: erschütternde Ahnung von Tod und Vollendung, lyrischer Extrakt romantischer Beschäftigung mit den letzten Dingen.

Fischer-Dieskau fühlte sich im Herkulessaal von einem empfindungsfähigen, ganz und gar nicht sensationslüsternen Publikum verstanden, und er gab, sichtlich erfreut, noch einen halben Liederabend zu. Gerald Moore fungierte als kongenialer Klavierpartner, nicht als "Begleiter". Allein seine rhythmische Energie, Begleitachtel zu beleben, sein Sinn für harmonische Rückungen und sein kerniger, männlicher Anschlag wären abendfüllend gewesen. Wer führt diese Renovierung des Schubert-Bildes auf anderen Gebieten fort? Die Verwesentlichung im Liede wird durch Fischer-Dieskau, Prey und Hotter vollzogen; auch Streichquartette, denen Schubert heilig ist, fanden sich. Doch wo ist der junge Schubert-Dirigent, dem die Symphonien so viel bedeuten wie jene Beethovens? Und wo findet sich vor allem der junge Pianist, dem sich der noch unbewältigte Kosmos der Klaviersonaten erschließt?

Karl Schumann

   

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     Münchner Merkur, Datum unbekannt     

    

Erlkönig und Nachtviolen

Fischer-Dieskau singt Lieder von Schubert

    

Das seit Tagen ausverkaufte Schubert-Konzert Dietrich Fischer-Dieskaus im Herkulessaal begann mit dem "Erlkönig". Es endete (für mich) mit der ersten Zugabe, den "Nachtviolen". Diese beiden Lieder umspannen den ganzen Radius Schubertscher Liedkunst. Ihre musikalische Gestalt offenbart zugleich den gewaltigen Kontrast zwischen den (scheinbar) dramatischen und den lyrischen Liedern Schuberts, der seine Verbindung darin findet, daß Schubert immer und überall – auch in den leidenschaftlichsten oder dramatisch bewegtesten seiner Lieder – immer der Lyriker ist und sein will. Als Fischer-Dieskau, der begnadete Liedersänger, nach dem Krieg die Welt wieder auf Schuberts Lieder aufmerksam machte, als er damit die große Tat vollbrachte, die wir ihm alle danken, da war dieser Sänger der große Lyriker und damit in völligem Einklang zu Schuberts Lied.

Die Anforderungen der großen Säle, die intensive und erfolgreiche Beschäftigung mit der Oper haben diese Schubert-Auffassung gewandelt: Fischer-Dieskau suchte und fand den dramatischen Schubert. Er formt ihn mit den großartigen Mitteln seiner vielfältigen Ausdrucks fähigen Stimme. So entdeckte er auch im "Erlkönig" die dramatische Vortragsweise, das Nachahmen der Stimmen des "Erlenkönigs" und des Vaters, das Versinken im Flüstern und das Erheben zum großen Ausbruch. Das alles geschieht mit bewundernswerter Kunst.

Und doch ist sogar der "Erlkönig", wie etwa auch die "Gruppe aus dem Tartarus" lyrischen Charakters. Melodie und Begleitung sagen alles. Wer ihnen folgt, erfüllt Schuberts Liedmaß voll und ganz. Das gilt genauso vom "Musensohn", bei dem eine Imitation des "stumpfen Burschen" und des "steifen Mädchens" durch einen entsprechenden Stimmklang den Reiz der melodischen Linie unterbrechen muß.

Es gibt nur den einen, den lyrischen Schubert. Aber es gibt zwei Fischer-Dieskaus, beide großartige Künstler: den dramatischen der Bühne (in "Arabella" oder "Salome" zum Beispiel) und den lyrischen. Letzterer müßte den anderen, sobald sie zusammen aufs Konzertpodium kommen, wieder ganz in seinen Bannkreis ziehen.

Dieser lyrische Fischer-Dieskau ist so stark als Persönlichkeit, seiner Stimme und seiner Ausdruckskraft so sicher, daß er leicht den Sieg erringen kann, ohne etwas zu verlieren, viel aber zu gewinnen.

Wie unwiderstehlich die Wirkung Schubertschen Liedes bei diesem ist, erlebte man in der atemlosen Stille des Saales, als Fischer-Dieskau die schmale und unendlich zarte Linie des "Abendrot" wie einen schlichten Silberschmuck auslegte, als er "Du bist die Ruh’" wie aus einem Atem vom zarten Schimmer des Anfangs zum hellen Glanz der letzten Phrase steigert, als er "Nachtviolen" ohne jede Zuhilfenahme außermelodischer Mittel in ihre Stimmung einfärbte.

Dieser lyrische Fischer-Dieskau ist unerreicht und seine Stimme herrlich schön. Er hat in Gerald Moore einen kongenialen Begleiter, einen Deuter Schubertschen Klaviersatzes, auch einen, der die Unerbittlichkeit der Schubertschen Tempi erkennt und der – gerade im "Erlkönig" – trotz eines heftigen Antriebs dem Sänger den ganzen Raum lyrischer Entfaltung läßt.

Ludwig Wismeyer


    

     Münchner Abendzeitung, 24. Mai 1962     

    

Fischer-Dieskau im Herkulessal:

Herold des Liedes

     

Die Zeit deponiert die einzelnen Kunstgattungen nach unvorherbestimmbaren Moderichtungen im Archiv der Geschichte. Darüber wissen oft nicht einmal die Fachleute Bescheid. Aber in der voraneilenden Zeit gibt es immer wieder Strömungen, die zurückbringen, was schon einmal war. In unseren Tagen gibt es zwei Künstler, die solche Strömungen fühlten, weil sie den Dingen, die sie wiederbringen, verwandt sind. Es sind Maria Callas und Dietrich Fischer-Dieskau. Die Callas veranlaßte eine Renaissance der großen Oper, Fischer-Dieskau die des Liedes.

Nun war der Liedgesang keineswegs so ausgestorben gewesen, wie die große Oper, aber er war konventionell geworden oder hatte sich der modernen Sachlichkeit untergeordnet. Da kam vor zehn Jahren der junge Fischer-Dieskau und entfesselte die gewaltigen lyrischen Kräfte des Liedes von neuem, entsprechend einer dynamisch gewordenen Zeit.

Er tat es in einer so elementaren, Geistiges und Stoffliches untrennbar verbindenden Weise, daß er für das Eigenartigste und Beste im deutschen Wesen Herolddienste in der Welt leistete wie kein anderer deutscher Künstler. An seinem Schubert-Abend im Herkulessaal brachte er die Lieder in chronologischer Ordnung, was sich beziehungsreicher ausnimmt, als es bei einem Genie wie Schubert tatsächlich der Fall ist.

Alle Tugenden dieses Liedersängers par excellence traten wieder zu Tage, zu dem freilich einige kleine Manieriertheiten, die sich aus dem Streben nach weiterer Verfeinerung und als ein allgemeines Charakteristikum großer Künstler ergeben. Da ist etwa das eigenartige Skandieren und typische Akzentuieren bei Intervallsprüngen nach oben. Was aber bedeutet das gegen den fabelhaften Nuancenreichtum an Tönen, die Pianohöhen, die kraftvollen dramatischen Forti, die verhauchenden Töne, die makellose Artikulation, die unvergleichliche Phrasierung!

Der Liedkunst des Sängers entsprach die Begleitkunst Gerald Moores. Dieser wunderbare Künstler, der mit einigen wenigen Tönen Bilder und Landschaften sichtbar vors innere Auge hinzaubert (Der Einsame!), ist an seinem Klavier mehr ein Regisseur der seelischen Szenerie als das, was man einen Begleiter nennt. Zahllose Zugaben für ein verzaubertes Publikum.

Mingotti

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