Zum Liederabend am 20. Mai 1962 in Baden-Baden

Badische Neueste Nachrichten, 22. Mai 1962

Das dritte Meisterkonzert

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schubert mit großem Erfolg

Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore veranstalteten am Sonntag im Großen Bühnensaal gemeinsam einen Schubert-Abend. Mit Bedacht haben wir die beiden Künstler sogleich zusammen genannt, denn hier handelt es sich nicht um einen großen Sänger und einen beliebigen routinierten Begleiter, sondern um zwei Ebenbürtige, die beide mit vollendetem Können und eindringendem Kunstverstand Gestaltungen von durchdachter Ausgewogenheit, aber auch fesselnder Unmittelbarkeit formen. Wie der Gesamteindruck des Abends zweifellos dartat, dominiert in dieser gemeinsamen Interpretation der Intellekt, der im Sänger sich vom Text her inspirieren läßt. Beim Mitlesen der Texte war die Stelle aufs Wort genau zu erkennen, von der dann der musikalische Impuls, die Erschließung der tönenden Linie ausging. Der Klang lebte aus dem Begriff. Darin möchten wir die Eigenart von Fischer-Dieskaus Interpretation erblicken und auch die Ursache ihrer starken Suggestivität, im Gegensatz zum, summarisch gesagt, italienischen Kunstgesang, dem die Schönheit der melodischen Linie durch die Expressivität seines bel canto zu vermitteln, erstes und oft einziges Anliegen ist.

Selbstverständlich geht dieses textinterpretierende Verfahren bei Fischer-Dieskau in den herrlichen Klang einer unendlich modulationsfähigen Stimme ein. Oft aber unterbricht er ihn auch zugunsten eines deklamatorischen Akzents, eben jener erwähnten, begrifflichen Belichtung der Situation. So beispielsweise im eingangs gesungenen Erlkönig. Die dramatische Scheidung der Personen des Vaters, des Kindes und des Elfenkönigs hört man bei den meisten Sängern. Aber man erinnere sich des werbenden Klanges in des Erlkönigs Satz: "Du liebes, Kind, komm geh mit mir", der von dem "liebes" ausging, oder dann, nach drängender Steigerung das drohende und zugleich sinnlich genießende "dann brauch ich Gewalt", wobei "Gewalt" wie ein leises aber unausweichliches Besitzergreifen wirkte. Ähnliche Eindrücke bot Memnon, wo die anfänglich steinerne Ruhe bei "Aurorens Purpurstrahlen" sich plötzlich erwärmte, oder im Gegensatz hierzu in dem Lied "An die Freunde", wo bei den Worten "dies alles ist dem Toten gleich" es war, als fiele ein fahler Wolkenschatten über blühende Gefilde.. Von solchen Stellen ging eine, das ganze Lied deutend erhellende Wirkung aus, ähnlich wie von gewissen Dehnungen, gleichsam rhetorischen Fermaten, die der Sänger mit feinstem Gefühl für den weiterpulsierenden Rhythmus einsetzte. Ebenso überzeugend empfand man die Überlegtheit dynamischer Höhepunkte. Nur einmal mußte man sich nach der Berechtigung eines solchen fragen, als im "Ständchen" die Rührung des "weichen Herzens" durch die "Silbertöne der Nachtigall" in heroischem Forte mitgeteilt wurde. Da erschien einmal der rein musikalische Faktor den Textausdruck zu überlagern.

Fischer-Dieskau unterschied unüberhörbar zwischen Liedern mit "innerer Dramatik" und solchen von rein lyrischem Charakter und zwar mit einer Schärfe, wie man sie bei anderen Sängern kaum findet. In diesen rein lyrischen Stücken überwog der Ausdruck des Melos und hierdurch wurden sie zu ergreifend musikalischen Offenbarungen einer souverän beherrschten Stimme. Am stärksten sicher im "Abendrot", das im schattierungsreichen piano als reines, beglückendes Klangphänomen gegeben wurde, Ausdruck eines Gemütes, dessen Erfüllung in kontemplativer Resignation ruht. Dann auch im "Du bist die Ruh", ganz in sich beschlossen bis zum zarten Crescendo am Ende, sowie in dem heiter bewegten, in leichtem parlando gegebenen "Musensohn", im leisen, zufriedenen Humor des "Einsamen". Ohne ein wertendes Urteil geben zu wollen, erschienen uns diese lyrischen Stücke bedeutender, erfüllender noch den Liedstil Schuberts zu treffen als die immanent dramatischen. Sprach hierfür nicht auch die nach begeistertem Schlußbeifall zugegebene "Nachtviole" mit ihrem eindringlich klingenden piano, ihrem Stimmungszauber ohnegleichen? Wenn irgendeines, so trug dieses Konzert den Titel eines Meister-Abends mit verbrieftem Recht.

-b-

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