Zum Liederabend am 8. November 1961 in Düsseldorf

Rheinische Post, Düsseldorf, 10. November 1961

Romantisches Lied als Musik von heute

Fischer-Dieskau sang Schubert und Schumann in der Rheinhalle

Liederabende von Dietrich Fischer-Dieskau sind, wo auch immer sie auf unserem Globus stattfinden, Ereignisse geworden. Hier ist noch einmal – einige weitere begnadete Sänger unserer Zeit kommen hinzu – eine Tradition, die man schon versunken glaubte, zu blühender Aktualität erwacht. Es mußte somit niemand verwundern, daß die Rheinhalle bei seinem Liederabend, dem zweiten Meisterkonzert dieses Konzertwinters, ausverkauft war.

Fischer-Dieskau kam mit Schubert und Schumann, das heißt, er kam eigentlich mit Heine. Der wundersame Sänger, den sein Weltruhm nicht zur Bequemlichkeit führte, sondern der beispielgebend sich auch stets und immer neu für neuestes Schaffen einsetzt, macht es sich auch beim Bekannten nicht bequem. Vor allem haben seine Liederabende, ähnlich Pears, Souzay und Prey etwa, immer ein geistiges Gesicht, stellen Liederzyklen in den Raum, Kunstformen, hinter denen die begnadete Stimme, das sängerische Können zurücktreten. Fischer-Dieskaus Stimme ist auf einen höchst möglichen Grat gelangt, auf dem sich Schönheit, Ausgeglichenheit, geistige Reife und Geschmack in hoher, dünner Luft begegnen. Man sagt diesem auch auf der Opernbühne dramatisch erregenden, singenden Schauspieler nach, daß sein Lied-, sein Oratoriengesang mittlerweile dramatisch unterglüht seien. Ich meine, es ist anders: Seine lyrische, seelische Intensität des Nachempfindens geht so weit, daß das Dramatische rein aus dem Geist des jeweiligen Liedes erwächst, wobei nicht übersehen zu werden braucht, daß die Erfahrung auf dem Weg zum Ruhm auch bei diesem Künstler dies oder jenes Routinehafte zur Selbstverständlichkeit werden ließ. Doch immer wieder erregt, wie sich dieser Sänger versenkt, einen Abend so, als sei er gestern noch nicht und morgen nicht mehr möglich, gestaltet, daß der Eindruck des Einmaligen erwächst.

Geschickt wählte er Schuberts "Atlas" zum Einsingen in den tückischen Raum. Es folgten weitere fünf, ziemlich selten zu hörende Lieder aus dem "Schwanengesang", immer Heine, immer großes Lied, immer mit etwas kühlem Pathos vom Sänger vorgetragen. Das Ereignis des Abends war Schumanns "Dichterliebe". Wie Fischer-Dieskau hier, begleitet von dem geistesverwandt mitgehenden Günther Weißenborn, nahtlos Lied an Lied reiht, durch Berg und Tal der Leidenschaften steigt, gehört zu den großen Erlebnissen im gegenwärtigen Weltmusiksaal. Und das Schöne ist, und man spürte es schon "Im wunderschönen Monat Mai", daß hier ein Liebender schlicht und versunken Heine-Versen nachsinnt, an der Hand geführt von Robert Schumann. Auf Einzelnes zu verweisen verbietet sich bei diesem Liedgesang. Etwa, wie die Stimme gegen Ende von "Ich grolle nicht" plötzlich ganz italienische Farbe gewinnt (ein Novum bei Fischer-Dieskau). Dann lohnt’s schon eher zu sagen, daß, als das Publikum beifallspendend zum Podium drängte, Zugaben erklangen, daß man etwa bei diesem gesungenen "Du bist wie eine Blume" heute noch angerührt wird von einer zarten, längst versunken gewähnten romantischen Bebung. Bei Fischer-Dieskau wird das alles Musik von heute.

P. M.


    

     Düsseldorfer Nachrichten, 10. November 1961     

    

Hohe Kunst des Liedgesangs

Zweites Meisterkonzert mit Fischer-Dieskau

    

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabende kommen, mal mehr, mal weniger, einer grundlegenden Lektion über den Liedgesang gleich. Seine Programme haben immer einen besonderen Reiz, weil sie nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet sind. Das diesjährige Düsseldorfer Konzert war ein reiner Heinrich-Heine-Abend mit Vertonungen von Schubert und Schumann. Wort und Klang sind bei Fischer-Dieskau eine untrennbare Einheit. Sie erklären und deuten sich wechselseitig. Nachlassender Klang wird durch eine prononcierte Artikulation ersetzt; bezeichnend dagegen der Ton stärker als das Wort die Stimmung, tritt die Deklamation in den Hintergrund und die Kantilene erhält ihr Recht.

Diesem Vermischen und Abwägen der sprachlichen wie der klanglichen Ebene und dem Herstellen einer innigen Beziehung zwischen beiden, gilt das hervorstechende Bemühen des Sängers Fischer-Dieskau. Daß er gelegentlich einer der beiden Seiten stärkeres Gewicht verleiht, mag zu den Unwägbarkeiten großer Künstlerschaft gehören. Auf jeden Fall konnten wir feststellen, daß die Ansätze zu jener übertriebenen Diktion, wie wir sie vor einem halben Jahr bei dem Wolf-Mörike-Abend so störend empfanden, nicht mehr vorhanden waren. Das ruhige Gleichgewicht eines in allen Dimensionen leidenschaftlich ausgeloteten Liedvortrags verlieh dem Gesang eine schlichte Natürlichkeit.

Was immer Fischer-Dieskau singt, er reflektiert es vom dramatischen Standpunkt aus. Wildes Aufbegehren oder melancholisches Verzagen, immer enthalten sie bei ihm einen Konfliktstoff, der ausgetragen und zur Lösung gebracht wird. Schuberts "Atlas" und "Ihr Bild" belegen diese konträren Positionen, während sich in dem Lied "Die Stadt" beide in eins vermischen. Der Zyklus "Dichterliebe", von Heine und Schumann unserer Rheinlandschaft gleichsam abgewonnen, wird von Fischer-Dieskau fast chronologisch empfunden: Es ist ein Kreuzweg mit freundlichen und schmerzlichen Stationen. Um das Überpersönliche des Kunstwerks wiederzugewinnen, läßt Fischer-Dieskau einen neutralen, balladenhaften Ton einfließen.

Alle Lieder wurden hervorragend gesungen und mit lauterem Wohlklang ausgegossen. Daß in der Höhe wie in der Tiefe ein paarmal stimmliche Grenzen hörbar wurden, wird am launischen Herbstwetter gelegen haben, dessen Tücken vor keiner Sängerkehle haltmachen. Günther Weißenborn als Begleiter war mitschürfender, mitgestaltender Pianist von hoher Anschlagskultur und Präzision.

Stürmischer Applaus in der ausverkauften Rheinhalle.

H. P. K.

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