Zur Oper am 22. August 1961 in München

Süddeutsche Zeitung, 24. August 1961

Henzes romantische Elegie

Die in Schwetzingen uraufgeführte Oper bei den Münchner Festspielen

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Die Wiederbegegnung mit dem Werk im Cuvilliéestheater im Rahmen der Opernfestspiele hat den Eindruck von Schwetzingen befestigt, ja, was die Wiedergabe betrifft, noch vertieft. Diese Aufführung ist ohne Zweifel nicht nur ein Münchner, sondern überhaupt ein Höhepunkt in der diesjährigen Festspielsaison.

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Dietrich Fischer-Dieskau als Gregor Mittenhofer – man könnte ihm eine eigene Studie widmen. Wie er die trivialen und die genialen Züge, das Launisch-Eitle und das Imposante, wie er Natur und Pose zu einer Gestalt von substantieller Komik (die etwas anderes ist als eine komische Figur auf dem Theater) zusammenfügt, wie er diese Gestalt mit den Ausdrucksvariationen der Stimme, im Gang, in der Haltung und Gebärde so durchzeichnet, daß Nimbus und Wesen, Charakter und Erscheinung einander ständig reflektieren – das ist schauspielerisch wie sängerisch gleichermaßen vollkommen. (Zwei Höhepunkte: Der gesungene Wutausbruch des eben noch in der Attitüde des tief verstehenden, edel resignierenden älteren Freundes von allen Bewunderten, wenn er mit seiner Niederlage bei der jungen Geliebten allein ist, am Ende des zweiten Akts, und die gesprochene Anrede an das hochoffizielle Publikum vor der ersten Lesung der "Elegie" bei der Feier seines sechzigsten Geburtstags am Schluß – wem klänge nicht der Ton wohleinstudierter Ergriffenheit und innig verlogener Bescheidenheit vertraut, der jemals solchen Festakten mit obrigkeitlicher und gesellschaftlicher "Prominenz" beiwohnte?)

Mittenhofers Umgebung: die seiner egozentrischen Tyrannei willenlos unterworfene, hysterisch gewordene Sekretärin Carolina Kirchstetten, die anderen aber mit dem typischen Hochmut der "Vertrauten" eines großen Mannes gegenübertritt, und sein zwischen freundschaftlicher Anhänglichkeit und heimlichem Widerstreben hin- und hergerissener Leibarzt Dr. Reischmann erhielten von Lilian Benningsen und Carl Christian Kohn genau jenes nicht sehr ausgreifende Maß an Eigenleben, das die Satelliten eines verwöhnten Gestirns am Kunsthimmel – 1910 vielleicht Rilke, heute etwa Karajan – beanspruchen dürfen. Eva Maria Rogner gab, mit funkelnden Spitzentönen und halsbrecherischen Koloraturen, anzusehen wie ein frühes Damenporträt von Kirchner, die diskret-pathologische Studie einer "Visionärin" aus distinguierten Gesellschaftskreisen, und Ingeborg Bremert und Friedrich Lenz waren das mit seelischen Verklemmungen auch nicht unkarg bedachte todgeweihte Liebespaar. Dem sonst so sensiblen Ohr Hans Werner Henzes schien es entgangen zu sein, daß die Klangproportionen der Singstimmen in den Ensembles zuweilen nicht ganz stimmten, was wohl auch damit zusammenhängen mag, daß die Sänger, um die überaus schwierige Intonation zu treffen, zu sehr auf den eigenen Part konzentriert bleiben müssen. Sonst indessen war kaum ein Makel an der von Helmut Jürgens in einem leise ironisierenden Jugendstil-Bühnenbild – der ausgestopfte Adler an der Seitenwand! – ausgestatteten Aufführung zu bemerken.

Viel Fachinteressenten im Publikum, lebhaftes Für und Wider in den Pausengesprächen und am Schluß großer Beifall für das exquisite Ensemble und den in dreifacher Personalunion – als Komponist, Dirigent und Regisseur – auftretenden Hans Werner Henze.

K. H. Ruppel


    

     Münchner Merkur, Datum unbekannt     

    

Des Dichters Schöpferrausch im Plüschmilieu

   

Aus der Rokokofestlichkeit des Schwetzinger Schloßtheaters, der Stätte seiner Uraufführung [...] übersiedelte Hans Werner Henzes "Elegie für junge Liebende" in die noch größere Pracht des Cuvilliées-Theaters.

Einen doppelten Salto müssen wir nun machen: aus der Gegenwart in die luzide Geistigkeit des 18. Jahrhunderts und seiner Theater und dann wieder ins ausgehende 19. Jahrhundert, wo es am plüschigsten und muffigsten war. Denn das ist das Erstaunliche: der begabteste unter den jüngeren Komponisten legt in seiner Oper ein eindeutiges Bekenntnis zu einer naturalistisch infizierten Romantik ab, zum Individualismus und zu Ibsenscher Seelenanalyse, kurz zu allem, was noch vor wenigen Jahren als Gipfel der Rückständigkeit und der Sünde wider den heiligen Geist der Kunst galt.

Wystan H. Auden und Chester Kallmann, Henzes Textdichtern, schwebte vor, den, wie sie es nennen, Mythos vom Nichtvorhandensein einer Identität des Guten und Schönen in der Person des schöpferischen Menschen zu gestalten. Aber unglücklicherweise wählen sie zur Demonstration dieser oft an großen Geistern bestätigten Wahrheit für ihren Fall einen Pseudokünstler.

Wer ist denn dieser Dichter Gregor Mittenhofer, die Zentralgestalt in Henzes Oper? Die Autoren verschlagen sich, ihn zu einem verstiegenen Exponenten einer hyperromantischen Kunstanschauung zu machen, der sich durch seelische Stimulantia in einen Schöpferrausch lullen läßt, für den Dichten nichts weiter bedeutet als das selbstgenüßliche Auskosten von Erlebnissen, Stimmungen, Reizen und psychischen Leiden (möglichst von anderen), die dann zu poetischen Ergüssen verarbeitet werden.

In saftigem Egoismus mißbraucht er seine Umgebung, die ihn verzückt mit "Meister" anredet und die er lediglich als Zuträger psychischer Sensationen wertet, selbst wenn dies für sie zu Katastrophe und Tod führt. In schöner Konsequenz wird sein schlechter Charakter also bis zum Kriminellen vorgetrieben. Dies alles, um später seine Dichtung über alle Abgründe triumphieren zu lassen.

Aber die Probleme, die diesen "Dichter" interessieren, sind so ichbezogen wie nur möglich, und seine Weltsicht so eng und klein, wie sie nur das Schlüsselloch des ausgehenden 19. Jahrhunderts eröffnete. Daß dieser Mann des anempfundenen Schwulstes ein wahres Kunstwerk zuwege bringt, glauben wir einfach nicht; und damit wäre das dramaturgische und ethische Ziel der Oper, wie Auden und Kallmann selber zugeben, verfehlt.

Man kennt Henze als intelligenten Komponisten, der genau weiß, was er macht, und sehr wohl in der Lage ist, über Kunst gescheite Aperçus zu liefern. Also muß man auch annehmen, daß er in dies antiquierte Plüschmilieu nicht hineingeschliddert, sondern bewußt darauf zugesteuert ist. Die Erklärung müßte im Werk selbst liegen.

Und so sitzt man denn im Theater und wartet auf den erlösenden Moment, wo sich Ironie einmal nicht als Randverzierung, sondern als kritische Distanz zu dieser bourgeoisen Vorstellung des Künstlers abzeichnet.

Für kurze Momente geschieht dies, etwa in der überheblich sarkastischen Verspottung der George, Rilke und Hofmannsthal durch Mittenhofer. Aber je länger, je mehr werden Stoff und Personen wieder ernst genommen. So muß man also annehmen, daß Henze die auf Pseudowegen erzielten Dichtungen seines Helden für bare Münze hält (entsprechend äußert er sich auch im Programmheft).

Wir haben also in unserer pluralistischen Kultur auch diesen bemerkenswerten Fall, daß einer unserer wichtigsten schöpferischen Geister sich zur Hysterie als legitimem (und vielleicht einzig noch möglichem? – was einem künstlerischen Offenbarungseid gleichkäme) Weg zur Kunst bekennt, weit entfernt von der immerhin über einige Jahrhunderte ganz bewährten Goetheschen Regel, die Poesie zu "kommandieren", was ja schließlich auch den Prinzipien des von den Autoren als Schutzpatron bemühten Hofmannsthal entsprach.

Die Qualität der Aufführung wurde anläßlich der Schwetzinger und Züricher Gastvorstellungen bereits bestätigt. Fischer-Dieskau als Mittenhofer ist eine psychologisch bis in die Fingerspitzen durchgeformte und glaubhafte Charakterstudie eines monomanisch besessenen, hemmungslosen Hysterikers, der für Augenblicke auch umwerfend charmant sein kann, und bei aller Schlechtigkeit ist die überlegene geistige Potenz dieses Mannes ständig präsent.

Auch alle anderen Darsteller leisten Außergewöhnliches: die bravourös ans Infantile herangespielte Hilde Mack der Eva Maria Rogner, eine Figur aus dem psychopathischen Panoptikum, die sehr beseelte Ingeborg Bremert, Lilian Benningsen, Karl Christian Kohn, Friedrich Lenz und Hubert Hilten.

Das erdrückende, lila-schwangere, hochkarätige Jugendstil-Interieur stammt von Helmut Jürgens; und Hans Werner Henze steht der von ihm inszenierten Aufführung nun auch als intensiver Dirigent vor.

Helmut Schmidt-Garre


    

     Abendzeitung, München, 24. August 1961     

   

Dichterlesung im Cuvilliéestheater

Henzes "Elegie für junge Liebende" bei den Festspielen

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Henze, der selbst dirigierte, behandelte das Orchester offenkundig zu laut und verhinderte so die Verständlichkeit der Sänger, die ohnehin durch die vielen Schlaginstrumente in Gefahr ist. [...]

Das Bühnenbild, in einem fein ironisierten Jugendstil von Helmut Jürgens, ist höchst atmosphärisch. Henze zeigte sich abermals als exzellenter Spielleiter, denn das Ensemble hatte, abgesehen von den außerordentlichen gesanglichen Leistungen, hohes schauspielerisches Niveau. Dietrich Fischer-Dieskaus Gregor Mittenhofer prägt sich unverwischbar ins Gedächtnis ein, durch minutiöse Detailzeichnung bei großzügigster Wirkung. Seine gesangliche Beherrschung der Rolle ist souverän und schöpferisch. In fabelhafter Treffsicherheit exzellierte Eva-Maria Rogner als visionäre Hilda Mack. Lilian Benningsen schuf mit der gräflichen Sekretärin Carolina schauspielerisch und gesanglich den vollkommenen Paralleltyp zum Dichter.

An Ingeborg Bremert besticht die taktvolle Unbefangenheit, mit der sie ihre heikle Rolle als Elisabeth stimmlich sympathisch meistert. Ein Kabinettstück prächtiger Typengestaltung stellte Karl Christian Kohns Dr. Reischmann dar, dessen Sohn Toni von Friedrich Lenz mit stimmlicher Intensität ausgestattet wurde. Auch dem Orchester gebührt ein Teil der Anerkennung der hervorragenden Aufführung, die maßvollen Erstaufführungsapplaus erntete.

Mingotti

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