Zum Konzert am 29. Juli 1961 in Salzburg

  Die Presse, Wien, 1. August 1961

Applaus, sich selbst zur Freude – 
Das Konzert verdiente ihn nicht

Nach den festlichen Opernaufführungen im neuen Festspielhaus gab es mit dem ersten Orchesterkonzert ebendort auch ein weniger festliches Ereignis. Was in diesem Fall an Lob und Anerkennung vorzubringen ist, richtet sich vornehmlich an die Adresse der Zuhörerschaft, die aus eigenem so viel Empfangsbereitschaft mit ins Haus brachte, daß die an und für sich recht matten Darbietungen mit Enthusiasmus begrüßt wurden und solcherart doch auch wieder so etwas wie festlichen Nimbus erhielten.

Der Dirigent, Wolfgang Sawallisch, mag selbst von der guten Stimmung, die ihm entgegenströmte, überrascht gewesen sein, denn auch er mußte es spüren, daß von seiner Person diesmal nicht das rechte stimmungsfördernde Fluidum ausging. Wohl gab er sich mit aller Entschlossenheit seiner Dirigententätigkeit hin, und wohl sah man, wie er sich anstrengte, wie er sich bemühte, animierend einzuwirken, und doch gelang es ihm nicht, gleichsam vom Boden wegzukommen und seinem Musizieren den Charakter der Nüchternheit abzustreifen.

So kam denn nicht mehr zustande als eine obligate Absolvierung des vorgesehenen Programms. Was dabei an Lichtpunkten aufleuchtete, war in erster Linie der Künstlerschaft unserer philharmonischen Solisten zu danken, etwa dem Horn, der Oboe oder der Posaune in der großen C-Dur-Symphonie von Schubert. Eine wirklich profilierte und geistig beschwingte Darstellung des herrlichen Werkes erfolgte ebensowenig wie mit der fröhlichen Haydn-Symphonie aus dem Jahre 1773 als Einleitungsstück jener adrette, höfisch galante Umgangston erreicht wurde, wie er zum gemütlichen zeremoniellen Charakter dieser prächtigen Gesellschaftsmusik gehört.

Mit dem Placement von drei Baritongesängen aus Schumanns "Faust"-Szenen zwischen Haydn und Schubert wurde ferner eine nicht unbedenkliche Stil- und Geschmacksverwirrung hervorgerufen. Außerdem begeht man ein schweres Unrecht an Schumanns noblem Werk, dessen dritter Teil mit der Anachoretenszene von wahrhaft genialen Eingebungen durchwirkt ist, wenn man aus den weniger inspirierten Teilen Fragmente vorführt, die, aus dem Zusammenhang gerissen, womöglich noch schwächer wirken, als sie in Wirklichkeit sind.

Fischer-Dieskaus Liederabend

Auch ein großer Künstler und Musikgestalter wie Dietrich Fischer-Dieskau vermochte da kaum etwas von Goethes faustischem Geist zu vermitteln. Der Fortissimo-Beifall, der ihn gleichwohl umdonnerte, galt offenbar seiner außerordentlichen Beliebtheit oder mochte als Vorschuß auf das Hugo-Wolf-Programm gedeutet werden, mit dem er tags darauf sein dankbares Auditorium im Mozarteums-Saal entzückte. [...]

Kr


   

     Kurier, Wien, 31.Juli 1961     

   

"Faust" – oder: Das Vorspiel im Konzert

Zum ersten Orchesterkonzert der Philharmoniker im Neuen Festspielhaus mit Wolfgang Sawallisch und Fischer-Dieskau

    

Die dominierende Stellung, die das Schauspiel heuer im Salzburger Kunstsommer teils durch umfassende Planung auf diesem Sektor, teils durch Versäumnisse in den anderen Sparten einnimmt, wurde auch im ersten Orchesterkonzert der Festivalsaison 1961 sehr sinnvoll angespielt: Mit der Aufführung von drei Gesängen aus Schumanns "Faust"-Musik, einem dreiteiligen Werk für Soli, Chor und Orchester, das weder als Schauspielmusik noch als Oper konzipiert worden ist, sondern mit dem Gedanken an konzertante Wiedergabe geschrieben wurde.

Drei Szenen aus dem "Faust II" waren nun zu hören, drei große Faust-Soli: Der Sonnenaufgang mit dem Morgengruß, die Mitternacht, in der Faust erblindet, und seine be- und erkenntnisreiche Todesstunde. Schumanns überaus sensitives Wesen, sein von Nachtschatten bedrängter Geist, konnte sich an diesem gewaltigen Stoff offenbar mehr literarisch als musikalisch entzünden. Wohl ist der Stimmungsgehalt der Musik dem der Dichtung adäquat, doch hat das Genie Goethes in dem Komponisten nicht jenen genialen Funken aufglimmen lassen, der die Übertragung von einem Ausdrucksbereich in den anderen zu einer Steigerung, zu einer wirklichen Neuschöpfung mit anderen Mitteln hätte werden lassen. So geht die stärkste Wirkung von der Todesszene aus, in der die Musik das Wort im selben Maß atmosphärisch rahmt wie geistig ausspart.

Dietrich Fischer-Dieskau war der vielbejubelte Interpret dieser Rarität: Er sang sie mit allem Ernst und allem Beteiligtsein, die das Werk erforderte, musikalisch und textlich klar geprägt und von den Philharmoniken unter Wolfgang Sawallisch bis ins Detail genau begleitet.

[...]

Herbert Schneiber


   

     Salzburger Nachrichten, 31. Juli 1961     

   

"Am farb’gen Abglanz haben wir das Leben"

Faustisches Streben und musikantisches Fürbaßgehen – Das 1. Orchesterkonzert

    

Dieses Eröffnungskonzert am Samstagabend im neuen Festspielhaus brachte nicht das elementare Erstrahlen einer Sonne, sondern eher deren Abglanz; keine absolute Erfüllung, gewiß, aber wo man’s packte, war’s interessant. Da stand zunächst das Programm als eine schöne Besonderheit da: Haydns Maria-Theresien-Sinfonie in C-Dur machte den Beginn; es ist die Widmung an jene hohe Frau, die selbst als Thronerbin nach vier Kaisern mit "kompositorischem Genie" der Musik in jungen Jahren als Sängerin zu huldigen liebte. Dann folgten drei Gesänge aus "Szenen zu Goethes Faust", dem letzten bedeutenden Werk des Romantikers Robert Schumann; in Salzburg wie in den meisten Musikstädten nie oder in Jahrzehnten nur einmal gehört. Den Beschluß bildete die große C-Dur-Sinfonie, das letzte Werk der Gattung von Franz Schubert, ein Prüfstein für jeden der jüngeren Interpreten am Pult, was den Weg betrifft, den sie selbständig mit ihrem eigenen, ganz persönlichen Musikertemperament vorangekommen sind.

Interessant war der Abend in dem bis zum letzten Platz vollbesetzten großen Hause auch gerade von dieser Seite her: Es ergab sich der Vergleich zweier Individualitäten im Bereich der Wiedergabe, die derselben Generation angehören und dennoch – man möchte sagen – zwei ganz verschiedenen Jahrhunderten: Neben dem Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, dem poetisch-sensiblen Nachgestalter in der Prägung eines Weggefährten der Werke, eines Polyhistors außerordentlicher Programmentwürfe, von dem auch der persönliche Vorschlag zur Aufführung der "Faust"-Szenen stammte, trat Wolfgang Sawallisch, markant auf seine Weise, als ein Musiker hervor, dem das Musizieren allem Anschein nach ein helles, geregeltes Wachsein nicht minder als nachher den gesunden Schlaf unbeschwert zu garantieren vermag. Seine Wiedergabe ist ein mutig-selbstgewisses Fürbaßschreiten, das immer die gezimmerte Erde des Podiums unter den Füßen behält; sein Dirigeren hat Format und praktische Formen angenommen, die Sicherheit verbreiten, ohne zu bezwingen; dadurch gerät manches unter dieser eindrucksvollen Markierung der musikantischen Tatsachen um vieles ungebundener im letzten Feingehalt des Details ebenso wie in der Nachzeichnung des Klangbildes.

Diese Eigenheit des Musikers Sawallisch wurde in dem bemerkenswerten Mittelstück des Programms, den Schumannschen Gesängen zu "Faust", zu sehr bestimmend, als daß hier nun endlich das Werk mit seinen besten Zügen sich ganz spontan hätte enthüllen können. Zwar muß dem großen Lyriker des Klaviers in dieser Komposition wohl nachgesagt werden, daß er der vokalen Solostimme klanglich mit breiten parallelen Streicherschichten viel mehr Geltung genommen als Stütze geboten hat; daß überhaupt der instrumentale Apparat (mit drei Posaunen, zwei Trompeten, vier Hörnern, vier Kontrabässen usw.) stark zum Symphonischen tendiert und dementsprechend statt der Begleitfunktion auch der selbständige Ausdruck beim Orchester vorherrscht; aber wäre nicht gerade deshalb ein delikates Zurücknehmen des Klangvolumens, eine bewußt geförderte Durchsichtigkeit in der Registrierung (über dunklen Vokalen, über Piano-Passagen, ja auch im Forte-Spiel der sehr schnell-bewegten Strophe "So bleibe denn die Sonne") zu erstreben und – mit diesem souveränen Orchester der Wiener Philharmoniker – ohne Zweifel auch zu erreichen gewesen? So blieb denn der Eindruck einer Komposition von großer melodischer Schönheit und Feierlichkeit, die indes einer tieferen Erfahrung vom Dirigenten aus (Carl Schuricht kennt man als bewährten, durchgeistigten Anwalt desselben Werkes) hier noch bedurfte.

Dietrich Fischer-Dieskau, dessen deklamatorische Kraft und stimmliches Kapital die Vorbedingung dieser Werkwahl einzigartig erfüllten, hat bewiesen, welch hohes Erlebnis von dem unbekannten Werk ausstrahlen kann, selbst wenn gegen die Schwierigkeit der solistischen Entfaltung diesmal noch nicht alle denkbaren Mittel einer Modifizierung des Orchestervortrags aufgeboten worden sind.

Die drei ausgewählten Stücke aus Szenen von "Faust", Zweiter Teil, können als die musikalisch stärksten des umfangreichen Opus gelten. Sie wurden in frühen Aufführungen, zu Schumanns Lebenszeit, auch von dem Brahms-Freund Julius Stockhausen gerne bevorzugt: Da sind zunächst die hymnisch gestimmten Strophen Fausts im Anblick des Sonnenaufgangs ("Des Lebens Pulse schlagen frisch, lebendig ... am farb’gen Abglanz haben wir das Leben"); dann die unheimliche Bewältigung der Einsamkeit im Erblinden des Weisen ("Die Nacht scheint tiefer, tief hereinzudringen") und am Schluß das Erschauen ewigen Bleibens im "höchsten Augenblick", Fausts Tod; sein in einer Täuschung der Sinne glückhaft erfahrenes Hinsinken aus der Vision "kühn-ems’ger Völkerschaft" zu dem "Gewimmel" der Lemuren. Hier verglühte im Abgesang der kongeniale Widerschein künstlerischer Erfüllung.

Bei der festlichen Intrada mit Haydn war Wolfgang Sawallisch in vorzüglicher Kondition; das Adagio freilich schien uns bereits etwas von Schubertschen Vortragsnuancen vorwegzunehmen. Die große C-Dur-Sinfonie endlich mit ihrem unnachahmlich österreichischen Idiom – es fand im Andante con moto seine Sprache noch nicht ganz so licht und leicht, wie sich’s schickt ("mit ein’ Federl auf’m Hut", sagte Erich Kleiber) – rief durch den effektvoll gegliederten Aufbau und den mitreißenden Schwung des Finalsatzes den Jubel des Publikums für Dirigent und Orchester doch unfehlbar auf den Plan.

Max Kaindl-Hönig

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