Zum Konzert am 24. Februar 1961 in Berlin

Berliner Tagesspiegel 

Passionshistorie nach Matthäus

Heinrich-Schütz-Aufführung in der Zehlendorfer Paulus-Kirche

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In der Zehlendorfer Paulus-Kirche hörte man eine Aufführung der Matthäus-Passion, der die Brüder Fischer-Dieskau Gestalt und Gesicht gaben: der eine, Klaus, als Leiter des gut studierten, stimmschön und ausdrucksvoll, wenn auch rhythmisch nicht immer präzis singenden Hugo-Distler-Chors, der andere, Dietrich, als dominierender, den Rhythmus der Erzählung bestimmender "Testo", als Vertreter der Partie des Evangelisten, die sonst vom Tenor gesungen wird, aber vom Bariton mühelos zu bewältigen ist. Daß dieser Ausdruckssänger die expressiven, dramatischen Züge des Schützschen Rezitativs betonen würde, war selbstverständlich. Er tat es mit einer geradezu visionären Sicherheit im Erfassen von Inhalt, Situation und religiöser Bedeutung, mit einem künstlerischen Taktgefühl, das bei aller Lebendigkeit des Vortrags, trotz wechselnder Zeitmaße und gliedernder Zäsuren, die Beziehung auf die feierliche liturgische Rezitation immer durchscheinen ließ; er war der Spiritus rector der musikalischen Zeremonie, der die Soliloquenten – Judas, Petrus, Kaiphas, Pilatus – überlegen in den Strom der Erzählung hineinzwang; vor allem Johannes Richter, der Sänger der Christusworte, war bemüht, sich dem expressiven Stil des Vortrags anzupassen. So ergab sich eine Wiedergabe, die vom Wort, von gesungenen, bild- und ausdrucksgeladenen Wort bestimmt war, vom Epischen zuweilen ins Dramatische greifend, unkonventionell, aber zwingend lebendig und dem vieldeutigen, vielschichtigen Wesen der Schützschen Kunst in ihrer Subjektivität entsprechend; erst der herrliche chorische "Beschluß" löste die Spannung des Passionsdramas in die lyrische Ruhe der unergründlichen Musik.

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Oe.

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