Zur Oper am 18. August 1960 in München

Süddeutsche Zeitung, 20. August 1960 

Falstaff als Festspieloper

Ferdinand Leitner dirigiert im Prinzregententheater

Was wäre leichter als der Übertritt aus der Komödienwelt Mozarts in die des alten Verdi? Vom "Figaro" zum "Falstaff" ist nur ein Schritt – über rund hundert Erdenjahre hinweg freilich, aber geistig unmittelbar ins Nachbarland. Hüben und drüben das Treiben ebenso spaßhafter wie wahrhafter Menschheit, hüben und drüben das Leuchten des Humors, die Brillanz des Witzes, das Funkeln der Ironie, und hüben wie drüben zum Schluß die Lösung aus allen heiteren Wirren, das allgemeine Händereichen, der große Friedensschluß. Dem flehenden "Contessa, perdono" Almavivas entspricht Fords bündiges "Genug, alle werden sich versöhnen", und in der Art, wie im "Falstaff" mit einem lakonischen Entschluß bewirkt wird, was im "Figaro" aus überwältigendem Herzensdrang zustande kommt, mag man erkennen, was bei aller Nachbarschaft im Geist die genialste Buffa von der genialsten Musikkomödie unterscheidet: Die fast fünfzig Jahre, die Verdi, als er den "Falstaff" schrieb, älter war als Mozart, als er den "Figaro" vollendete. Das "Figaro"-Finale ist der Introitus zu einem Eros-Fest ohnegleichen, bei dem die Paare, die sich endgültig gefunden haben, es kaum mehr erwarten können, einander in die Arme zu stürzen; das "Falstaff"-Finale aber, die berühmte Fuge "Alles ist Spaß auf Erden", ist ein Aperçu des Schöpfer-Geistes, der sich nach heiterstem Abschied von seinen Geschöpfen befreit erhebt in die Region des großen Weltgelächters. Die Flamme des Eros entzündet der achtzigjährige Verdi nicht mehr, aber die Fackel des Witzes. Zu Tanz und Fest ("Al ballo, al gioco!") rufen die letzten Seiten der "Figaro"-Partitur – zu versöhnlicher Welteinsicht die letzten, die Verdi (zum Ruhme der "absoluten" Musik) für die Bühne geschrieben hat: "Tutto nel mondo è burla..."

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Auch Dietrich Fischer-Dieskau kommt mit einem Schritt aus dem Salzburger "Figaro" in den Münchner "Falstaff", schlüpft aus der Gestalt des erotisch freibeuterischen Feudalherrn in die des merkurisch pfiffigen Spaßmachers, vertauscht das Mozartsche Arioso mit dem Verdischen Parlando. Er ist im einen wie im andern genug gerühmt worden, als Grandseigneur wie als ramponierter Ritter, dessen Ramponiertheit übrigens daher stammt, daß ihn sein "Herzensjunge Heinz" als König Heinrich V. von seinem Angesicht verbannt hat und die Handlung mithin zu dessen Regierungszeit, nicht, wie das Programmheft angibt, zur Zeit Heinrichs IV. spielt; es braucht also nicht vieler Worte, um ihm noch einmal zu bestätigen, daß sein Falstaff ein Ausbund an komischer Intelligenz ist – von der musikalischen Intelligenz eines Fischer-Dieskau braucht man überhaupt nicht mehr zu reden -, daß die Mischung aus Eitelkeit und Liebenswürdigkeit, aus jovialer Herablassung und frohgemuter Gaunerei, aus Profitlichkeit und chevalereskem Naturell den Umriß einer großartigen, geistvollen Karikatur gibt, der von Vitalität und Esprit gezeichnet wird und dem auf der deutschen Opernbühne so leicht nichts nahekommen dürfte. Auf ihr ist Fischer-Dieskau heute, was in den zwanziger Jahren auf der italienischen der unvergeßliche Mariano Stabile war: Falstaff l’Immenso.

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Mit ihm im Mittelpunkt hatte die Festspielaufführung im Prinzregententheater das innere Animato und Brio, das die unvergleichliche Partitur vom ersten bis zum letzten Takt sprühen und glitzern läßt, auch dann noch, als Ferdinand Leitner, Stuttgarts Generalmusikdirektor, manche Tempi breiter nahm, als man es aus italienischen Aufführungen gewöhnt ist. (Vielleicht tat er es aus dem Gefühl, deutschen, beziehungsweise nichtitalienischen Sängern das "Parlando" durch eine Vorgabe an "Cantando" zu erleichtern, womit dann freilich auch wieder das Problem der Originalsprache berührt wird; wir bleiben bei unserer Forderung, daß eine Bühne vom Rang der Bayerischen Staatsoper, mindestens in den Festspielen, italienische Opern – und selbstverständlich die italienisch komponierten Opern Mozarts – in italienischer Sprache zu geben habe.) Abgesehen davon aber war es ein reines Vergnügen, wie Leitner das Orchester kammermusikalisch spielen ließ, wie er transparent im Klang blieb, die solistischen Kostbarkeiten zum Leuchten brachte und wie elegant und präzis er die auch noch beim alten Verdi so wunderbar sinnfällige musikalische Gestik nachzeichnete. Nicht daß er es an schlagkräftiger Drastik, was die karikierenden Entladungen des Blechs oder der Becken betrifft, hätte fehlen lassen; aber sein oberstes Bestreben blieb, die "Falstaff"-Musik als das darzustellen, was sie ist: Die geistreichste Sammlung klingender Aphorismen, die es in der Opernliteratur gibt.

Im Ensemble, das sich mit den Damen Claire Watson, Marianne Radev, Lilian Benningsen und den Herren Josef Metternich, Horst Wilhelm, Franz Klarwein, Karl Ostertag und Kieth Engen unter Heinz Arnolds Regie ebenso spiel- wie singfreudig präsentierte, sei Antonie Fahbergs Ännchen besonders hervorgehoben: Just so zart und schimmernd, wie sie den zauberhaften Elfenruf im letzten Bild sang, ist der Töneschleier gewoben, hinter dem der achtzigjährige Maestro die Romantik entschwinden sah, die neben dem grandiosen südlichen Realismus sein langes Komponistenleben hindurch das Wesen der Oper für ihn ausgemacht hatte.

K. H. Ruppel

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