Zum Konzert am 14. August 1960 in München

Süddeutsche Zeitung, 17. August 1960

Musikalische Streifzüge

Festlicher Händel-Abend

Das Kammerkonzert mit Werken von Georg Friedrich Händel hatte zu Recht seinen Platz im Rahmen der Münchner Festspiele; der Abend bot festspielreife Leistungen. Ein sorgfältig ausgewogenes Programm – je eine Sonate für Flöte und für Oboe, zwei italienische Kantaten für Baß-Solo und zum Eingang und Ende je eine Trio-Sonate – gab fünf virtuosen und stilsicheren Musikern Gelegenheit zu einer beinahe idealen Zusammenarbeit. Wenn wir sagen; beinahe, so sei damit der entzückte Beifall eines ernsthaften Publikums nicht Lügen gestraft. Händels große Pracht mit ihrer Scheinpolyphonie und dramatischen Kraft will im stile giusto, das heißt ohne moderne Expressivität, ohne allzu beschleunigte noch gedehnte Tempi ihren Lauf nehmen. Man darf es einem so meisterlichen Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau ruhig andeuten, daß ihm in der nur mit Generalbaß begleiteten Kantate "Dalla guerra amorosa" die enormen technischen Schwierigkeiten zwar keine Schwierigkeiten machten - welch herrliche Fioriture! -, daß er aber im Espressivo des Guten ein wenig zuviel tat. Umgekehrt schien uns die vortreffliche Edith Picht-Axenfeld am Cembalo manchmal zu sehr auf den stile giusto erpicht. Vollendet war dann der Zusammenklang in der zweiten Kantate "Cuopre talvolta il cielo", wo auch der unvergleichliche Flötist Aurèle Nicolet und der ihm kaum nachstehende Oboist Lothar Koch als Begleiter in das gewaltige Unwetter-Gemälde Händels eingriffen. Als Solisten haben diese beiden erlesenen Holzbläser perfekte, stilistisch einwandfreie Aufführungen geboten und sich im Zusammenspiel bei den Triosonaten gegenseitig übertroffen. In den ständig vorhandenen, nicht wichtig genug zu nehmenden Generalbaß, dieses Fundament des barocken Musizierens, teilte sich die sichere Picht-Axenfeld am Cembalo (samt kontrastierenden Gegenstimmen) mit der Cellistin Irmgard Poppen. Diese unglaublich musikalische Person schien uns, geradezu traumwandlerisch ihren Part erfüllend, die nächste Verwandte des alten Georg Friedrich Händel.

J. L.


   

     Münchner Merkur, 16. August 1960     

   

Fischer-Dieskau singt Händel-Kantaten

Kammermusik des 18. Jahrhunderts als Beitrag zu den Opernfestspielen

    

Man verzeihe die Frage, was Händels Kammersonaten, zwar mit Kunst geschriebene, aber aus der Nachbildung italienischer Vorbilder (Steffan) entstandene Typenmusik des 18. Jahrhunderts, mit den Münchner Opernfestspielen zu tun haben?

Man verzeihe die weitere Frage, wozu man den großartigen Dietrich Fischer-Dieskau zu diesem Kammermusikabend im Herkulessaal bemüht hat, um ihn – den liederreichen, lyrischen Bariton – zwei Händel-Kantaten für Baß (der er nicht ist) singen (und teils transponieren?) zu lassen. Unerhört freilich, wie er die Technik der Koloratur und des Trillers italienischer Art beherrscht, bewundernswert, wie er Ausdruck und Form meistert. Aber diese Arien brauchen einen profunden Baß, dessen Tiefe rollt und Händels Pomp zur Schau trägt.

Man verzeihe daher den Verdacht, daß hier der Name Fischer-Dieskau als Vorspann für das Arrangement eines Konzertes des Kammer-Ensembles Picht-Axenfeld benutzt worden ist.

Man verzeihe nicht minder die Offenheit einer persönlichen Meinung, daß die Art, um nicht zu sagen das Primadonnatum, mit der diese ausgezeichnete Cembalistin – als Continuo-Spielerin in absolut sekundärer, begleitender Rolle – sich zur unübersehbaren Mitte des Konzerts machte, unangenehm wirkte. Große "Ausdrucks"-Posen sind und bleiben am Generalbaßinstrument deplaziert, besonders wenn der Sänger glücklicherweise (obwohl er seiner führenden Partie nach das Recht dazu hätte) völlig darauf verzichtet.

So wurde der äußere Eindruck dieses in der Ausführung vor allem durch die hervorragenden Bläsersolisten Aurèle Nicolet (Flöte) und Lothar Koch (Oboe), prominenten Konzerts zur Belastung des Zuschauers. Ich kann mit so ausgesprochener feierlicher Zelebration alter Musik nichts anfangen, diese Musik gehört unauffällig aus ihrem eigenen Musik-Impuls heraus gespielt und nicht "dargebracht". Alles Auffällige sei da verpönt, auch die Zur-Schau-Stellung einer attraktiv abendbekleideten Cellistin (Irmgard Poppen), deren Part der dienendste aller musikalischen Stimmen ist.

Wozu also der Aufwand? Etwa um die Berechtigung dieses Abends innerhalb von "Festspielen" ad oculos zu demonstrieren?

Ludwig Wismeyer

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