Zum Liederabend am 27. August 1959 in München

Süddeutsche Zeitung, 29./30. August 1959

Münchner Festspiel-Abende

Liederabend Fischer-Dieskau

Einen Abend mit Liedern von Richard Strauss, Gustav Mahler und Hans Pfitzner zu füllen, schlüge einem Sänger, der nicht Dietrich Fischer-Dieskau heißt, in München gar übel aus; man pocht zwar auf freundschaftliche, ja verwandtschaftliche Beziehungen zu den drei Spätlingen der Romantik, aber ihnen in die einsamen Zonen ihrer Lyrik zu folgen, wäre zuviel verlangt. Die Faszination des Starbaritons bewirkt, daß solch ein "abseitiges" Programm ausverkauft ist, ehe es plakatiert wurde. Das hat den Vorzug, daß Interpretenautorität unpopuläre Kompositionen durchsetzt, den Nachteil, daß man wahllos Fischer-Dieskau einkauft, nur weil es schwer ist, für seine Abende Karten zu bekommen. Mein wertgeschätzter Nachbar zur Linken lieferte den Beweis: er scheint den Bariton-Orpheus für eine Art Elvis Presley der E-Musik gehalten zu haben, schlief enttäuscht bei der Pfitzner-Gruppe ein und kontrapunktierte "Hussens Kerker" mit gesunden Schnarchtönen.

Richard Strauss, den Weltmann unter den drei grundverschiedenen Nachfahren der Romantik, sieht Fischer-Dieskau unmißverständlich in den Bereichen satter Mendelssohn-Nachfolge und Jugendstil-Munterkeit. Er legt die Goethe-, Dahn- und Gilm-Lieder auf das Gefällige an, auf das üppige Melos und den Reiz des Stimmungshaften. Bei Mahlers Wunderhorn-Liedern läßt er das meisterhaft beherrschte Falsett dominieren, um das in volksliedhafte Töne gekleidete Leid der einsamen Kreatur ("Zu Straßburg auf der Schanz") herzbewegend auszudrücken, in schier gehauchten Pianissimoeffekten widerzuspiegeln und mit zartesten Nuancen der Deklamation einzufangen. Sein Verhältnis zu Mahler, dem Schmerzensmann zwischen Intellekt und Sehnsucht, ist beispielhaft. Auch ein humoriges Gebilde wie "Des Antonius von Padua Fischpredigt" braucht in keiner behutsam pointierten Phrase der latenten Melancholie zu entraten. Ähnliche Mahler-Interpretation und Mahler-Rehabilitation hat München, außer durch die Dirigenten Walter und Klemperer, noch nicht vernommen. Der Begleiter Karl Engel leistete hier Beispielhaftes an Delikatesse und Poesie des Anschlags.

Die Liedlyrik des versponnenen Pfitzner kommt Fischer-Dieskaus gefühlvollem Naturell besonders entgegen. "In Danzig", "Hussens Kerker" und "An die Mark" schwimmen, ja zerfließen in edlem Sentiment, in einem gemütvollen Auskosten des Textes und in schöner Wehmut der Kantilene; der grimmige und pathetische Pfitzner ("Zorn", "Säerspruch") und der bissige Humor der "Tragischen Geschichte" fordern nicht minder perfekt Fischer-Dieskaus mächtige Stentortöne heraus. Die Seelenlandschaft Pfitzners war aufs eindringlichste umrissen.

Der Herkulessaal glich einem Heerlager der Enthusiasten. Man hätte keinen freien Stehplatz mehr finden können. Auch am Applaus gemessen, war es einer der erfolgreichsten Abende der Münchner Festspiele. Eine würdige Feier des 10. Todestages von Strauss und Pfitzner, ein Vorklang zu dem (wohl recht dürftig ausfallenden) Gedenken an Mahlers 100. Geburtstag.

Karl Schumann


Münchner Merkur, 31. August 1959

Münchner Opernfestspiele

Sänger der Spätromantiker und das Rätsel der Sphinx

Dietrich Fischer-Dieskau und Lisa Della Casa mit Liederabenden

Die "Spätromantiker" haben um die Jahrhundertwende noch einmal versucht, das Lied – als die subjektivste Gestalt des Begriffs "Stimmung" – zu einem wesentlichen Bestand musikalischer Aussage zu machen – mit teils zeitlichem, teils nachhaltigem Erfolg. Die Lieder von Richard Strauss und Hans Pfitzner gelten noch heute, selbst wenn des ersteren lyrisch-emphatischer Schwung oft mehr Effekt als Inhalt birgt, und wenn des letzteren unendliche Melodie eben gerade dieser Art Melodie ein Ende setzt.

Dietrich Fischer-Dieskau, seiner Sängernatur und seinem Stimmgenre nach der Romantik nicht nur äußerlich, sondern vom Herzen her verbunden, wählte für seinen Liederabend im Herkulessaal diese beiden Spätromantiker, er machte damit eine tiefe Reverenz vor München, das Strauss und doch auch Pfitzner zu den Seinen rechnen kann. (Ersatz für den fehlenden Festspiel-"Palestrina".) Als dritter im spätromantischen Bunde erschien Gustav Mahler, auch in seinen Liedern typisch für sein Prinzip, das Wort in einer musikalischen Idee aufzulösen. Seine Wunderhorn-Lieder wollen allerdings diesen Grundsatz – ein echt romantischer Zug – auf das Volkslied übertragen, und es entsteht die Kluft zwischen "Im Volkston" und "Mit großem Ausdruck" (Musterbeispiel: "Zu Straßburg auf der Schanz").

So wurde Fischer-Dieskaus Liederprogramm zu einer fast wehmütigen Reminiszenz an die Vergänglichkeit großer Namen und zu einer Bestätigung der wahren Liedgrößen Schubert-Schumann-Brahms, die an diesem Abend fehlten. Uns scheint auch, daß der Sänger an ihnen seine Kunst von der überzeugendsten und besten Seite her zeigen kann: seine "lyrische Mitte", seine "schlichte Wahrheit". Beides hat den Glücksfall Fischer-Dieskau als Liedinterpret geschaffen, beides schien im vergangenen Jahr gefährdet, als der Stimmenopfer fordernde Moloch Opernbühne dieses schönste Baritonmaterial der Nachkriegszeit zu innig in seine nimmersatten Arme geschlossen hatte. Beides aber – man hörte es wie befreit – hat der Sänger wieder gewonnen.

Da ist wieder das weich und klar strömende Mezzoforte, von dem Fischer-Dieskau ausgeht – hier zum kraftvollen (aber disziplinierten) Forte, dort zum resonanzfähigen Pianissimo. Da ist sie auch wieder – die echte Empfindung, von keinem theatralischen Pathos erdrückt, von keinem unechten Seufzen vernebelt. Wie nahe könnte Pathos bei Richard Strauss’ "Liedern des Unmuts" sein, wie nahe ein Pseudo-Gefühl den Mahler-Liedern, und selbst die Pfitzner-Melodie könnte aufdringlich werden, fände sie nicht in Fischer-Dieskau Maß und Form.

Noch zweifelhafter stünde es aber mit dem musikalisch heikelsten Ding: dem Humor. Da kommt es völlig auf, was echt und was Talmi ist. Der kleinste Drücker nach der Effektseite, das scheinbar harmloseste Schielen nach dem Publikum – und der Sänger hat dem Humor den Garaus gemacht. Hat Fischer-Dieskau schon in seinem Mandryka der "Arabella" plötzlich gezeigt, daß er das Herz auf der rechten Humor-Seite hat, in den Mahler-Liedern "Selbstgefühl" und der "Fischpredigt des hl. Anton", zuletzt vollends in Pfitzners "Tragischer Geschichte" aber machte er staunen und zu innerst lächeln! Nie habe ich Humor so mit Kultur gepaart gehört.

Der Herkulessaal war bis zum letzten Stehplatz voller begeisterter Zuhörer. Der Beifall wollte nicht enden, er schloß den Dank an die stets unaufdringliche, dem Sänger untertane Begleitung Karl Engels ein.

[…]

Ludwig Wismeyer

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