Zum Liederabend am 20. April 1959 in Stuttgart

   

     Stuttgarter Zeitung,  22. April 1959     

    

Dietrich Fischer-Dieskau mit Schubert-Liedern

   

Der größte Teil des Publikums stürmte zum Podium, da es sich nach Fischer-Dieskaus Darbietung des Schubert-Zyklus "Die schöne Müllerin" von dem gefeierten Künstler nicht trennen konnte. Vielleicht wollte man es einfach nicht wahrhaben, daß der diesjährige Liederabend des stets umjubelten Troubadours im ausverkauften Beethovensaal doch nicht alle hochgesteckten Erwartungen erfüllte. Das Publikum war dem Sänger dennoch so zugetan, daß es den Titel des , Liedes "Pause" mit einer Regieanweisung des Veranstalters verwechselte, und gegen des Sängers Absicht, mitten in der Liedfolge in Beifall ausbrach.

Es wäre unfair, dem begnadeten Künstler einen Vorwurf daraus zu machen, daß es ihm nicht gelang, die etwas eintönige Lyrik dieser Liedfolge nach den sehr bescheidenen Intuitionen des Textautors zur Wirkung zu bringen. Das lag einmal an den zwanzig Liedern selbst, die sich wegen ihrer geringen Substanz wenig dazu eignen ohne Pause im Zusammenhang interpretiert zu werden; es lag ferner an dem für solch intime Musik zu großen Saal, es lag jedoch auch am Sänger selbst. Fischer-Dieskau, der mit nahezu missionarischer Hingabe der romantischen Liedkunst dient und dem wir Bedeutendes verdanken, hat eine gesangliche Perfektion in technischer wie musikalischer Hinsicht erreicht, die ihn auch einmal dazu zu verführen scheint; nur aus Gewohnheit schön zu singen.

Es gibt keinen technischen Widerstand mehr für ihn; was diesmal zur Folge hatte, daß auch eine künstlerische Unverbindlichkeit entstand, die den Sänger oft zu routinierten Effekten, zu deplacierten Sforzarti und oft nicht überzeugenden Untertreibungen verleitete. Nur selten, im "Jäger" und in "Des Baches Wiegenlied" entfaltete sich intuitiver Zauber des Erlebten". Sonst bestach uns mehr die souveräne Beherrschung der Mittel. Die zuverlässige Begleitung Günther Weißenborns am Flügel beschränkte sich auf schlackenlose. Routine.

Ist es ein Unglück, wenn einem Publikumsliebling, und zudem einem, der so unermeßlich viel kann wie Fischer-Dieskau, einmal nicht alles gelingt? Die Ausnahme bestätigt auch hier die Regel.

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   Stuttgarter Nachrichten, 22. April 1959   

    

VATER UND SOHN am Klavier: Dietrich Fischer-Dieskau mit dem älteren seiner beiden Jungen. Martin ist sehr musikalisch. Kein Wunder, bei dem berühmten Vater, dem Liedersänger, der von Konzert zu Konzert reist (und jetzt wieder in der ausverkauften Liederhalle begeisterte), und der ebenfalls bekannten Mutter, der Cellistin Irmgard Poppen. 

Ein Arsenal an Superlativen müßte man aufbieten, um einen Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus einigermaßen zu charakterisieren. Aber Worte können in diesem einmaligen Falle nur schwacher Ersatz sein.

Vom Wunder dieser Stimme zu sprechen, erscheint angesichts der Tatsache daß dieser Sänger die größten Säle füllt, unnötig. Randerscheinungen dieses Abends: ein Teil des Publikums stürmt, kaum ist das letzte Lied verklungen, nach vorne, um dem Gefeierten ganz nahe zu kommen. Es zwingt diesen wahrhaft bescheidenen Sänger, vor einer Menschenmauer mit Zugaben aufzuwarten.

Gibt das Textheft die Überschrift des 12. Liedes an, so wird geklatscht, weil man diese Überschrift "Pause" mit der traditionellen Unterbrechung verwechselt (die Fischer-Dieskau sich und seinen Zuhörern bezeichnenderweise nicht zugesteht). Schließlich: ein Liederabend vor zweitausend Hörern, in dem günstigen Beethovensaal der Liederhalle; vom Äußeren her gesehen, wird die intimste Sparte der Musik, das Lied, zur scheinbaren Massenkunst. Und das ist das Wunderbare: daß dieser Sänger sich vor dieser Umkehrung der Werte nicht verschließt, sondern willens ist, allen verständigen Hörern sein Inneres zu erschließen.

Seine Stimme transformiert den seelischen Gehalt der Vorlage, sie reflektiert in feinstabgestuften Schwingungen das, was hinter den Noten steht. Dieses Zusammen ergibt die Spitzenleistung. Fischer-Dieskau schafft nur Werte, er ist nie gezwungen, durch Effekte abzulenken. Er erschrickt nicht vor dem Zwang, in der "Schönen Müllerin" die häufigen Strophenlieder "füllen" zu müssen, sondern läßt das Gefühl sprechen: er ist der Romantiker par excellence. Vielleicht können erst spätere Generationen ermessen, was dieser Sänger für die Geschichte der Interpretation bedeutet, wie er oft abgewertete Dinge bewußt wieder einführt und so diesem höchst romantischen Genre der Geschichte einer verschmähten Liebe einen neuen Boden schafft, von dem aus man wieder zu einem wahren Verständnis dieser Zeit vorstoßen kann. Welcher Interpret aber könnte das für sich in Anspruch nehmen? In der Antwort auf diese Frage liegt die Bedeutung Dietrich Fischer-Dieskaus.

Noch einige Notizen zu diesem Ereignis: Höhepunkte innigsten Ausdrucks waren die Frage an das Bächlein ("Der Neugierige"), "Die liebe Farbe", die Vision von der am Grabe vorbeiziehenden Müllerin ("Trockne Blumen") und das Gespräch des Müllers mit dem Bach. Fischer-Dieskau wagt es - und wir wagen dieses verfemte Wort hier anzubringen - "sentimental" zu sein, die Tränen sind nicht mehr eine Schande für den Mann, sondern eine höchst legitime Gefühlsregung. Die Schranke davor ist längst gefallen, niemand wird von einem ungeschickten Text mehr sprechen.

Mit dem ebenso verhaltenen wie hervorragenden Begleiter Günther Weißenborn zog dieses Seelendrama en miniature an ergriffenen, erschütterten Zuhörern vorbei.

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   Aus dem Buch "Erlebte Musik – Teil 1"    

   

vom 20.4.1959

Die schöne Müllerin

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau Schuberts Liederzyklus von der "Schönen Müllerin" singt, dann erlebt auch der kritischste Kritiker etwas, wonach er sich meist nur vergeblich und heimlich sehnen darf: Entwaffnung. Endlich kann er rückhaltlos bewundern.

Fischer-Dieskau sang den Zyklus ohne Unterbrechung – die "Pause" erscheint ja als 12. Lied leibhaftig auskomponiert -, ohne jede Intonationstrübung, auswendig, musikalisch und deklamatorisch gleich souverän. Er vermied es durchaus, dramatische Höhepunkte opernhaft überschwenglich darzubieten oder irgendwelche Einzelheiten effektvoll aus dem künstlerischen Zusammenhang herauszubrechen, wozu ihn seine fast unglaubliche, jede Nuance mühelos meisternde Gesangstechnik gewiß verleiten könnte. Nur manchmal tönte er einzelne Strophen virtuos gegeneinander ab, indem er die Kontraste von Wilhelm Müllers bildkräftigen Texten gut gelaunt unterstrich. Gleichwohl hatte man fast nie den Eindruck interpretatorischer Willkür. Seine "Schöne Müllerin" ist exemplarisch, weil hier ein Sänger alle Kunst dem Ganzen des Schubertschen Kosmos unterordnet.

"Das Wandern ist des Müllers Lust" war hier kein knalliger, pseudopopulärer Beginn, sondern ein harmlos heiterer, flüchtig rascher Anfang: Noch ahnte niemand etwas von den Abgründen, auf die dieser Wanderer zuschritt. Im "Wohin?" trübte sich die lebensfreundliche Harmlosigkeit dann ein wenig – Fischer-Dieskau legte in den vom Rauschen berauschten Sinn des Müllerburschen eine leise Ahnung von Differenziertheit und Leidensfähigkeit. Dann erzählte uns jener Müller, sich immer mehr verstrickend, die Liebesgeschichte. Es ist unmöglich, die Fülle der ausdrucksvollen Einzelheiten zu beschreiben, etwa die großartig einleuchtende Pause, über die fast alle anderen hinwegsingen: "sag – Bächlein, liebt sie mich?" aus dem "Neugierigen", in deren Zehntelsekunde die Ewigkeit einer Erwartung liegt, oder den gerade nicht jubelnden, sondern eher scheuen und glücksbefangenen letzten Vers der "Ungeduld", die, so gesungen, keineswegs mehr als Solistenreißer in flotte Wunschkonzerte gehört, sondern nur noch in diese Leidensgeschichte. Nach einer solchen Vorbereitung konnte der düstere zweite Teil des Zyklus mit einer Gewalt wirken, die Genrehaftes, Sentimentales, Biedermeierseliges ausschloß. Die Wildheit der Eifersucht, die im Wiederholungszwang immer wieder geflüsterte Vision vom Selbstmord, an die der Unglückliche sich klammert – alles das gab dem Zyklus die oft geraubte Größe wieder. "Die liebe Farbe", ein Lied, dessen traurig bohrender Pianissimo-Eindringlichkeit kaum etwas an die Seite gestellt werden kann, wurde zum melancholischen Höhepunkt des Abends, "Des Baches Wiegenlied" zum Ausdruck wahnsinnigen Schmerzes.

Joachim Kaiser

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