Zum Konzert am 4. Mai 1958 in Essen

Ruhrzeitung, 6. Mai 1958

Lauter glückliche Gesichter

Schubertabend mit Dietrich Fischer-Dieskau

Auch diesmal war zum Liederabend des Baritons Dietrich Fischer-Dieskau im Städt. Saalbau die letzte Karte verkauft. Die Essener Konzert-Direktion hat den Künstler gleich für das nächste Jahr wieder verpflichtet.

Der Sänger kam mit ziemlicher Verspätung, sein Wagen mußte in dem dichten Verkehr auf der Autobahn im Schritt fahren. Als er aber auf dem Podium erschien, gab es im Publikum nur erwartungsvolle Gesichter.

Diese Stimme enthüllt ihre volle Schönheit erst im Verein mit der Gestaltung, mit einer Gestaltung von unvergleichlicher Bildkraft. Man denke an den Vers "Die Steine selbst, so schwer sie sind" und an die Stelle "...nimmermehr aus diesem Wald" in dem Schumann-Lied "Waldesgespräch", und man hat diese "Szenen" sofort sichtbar vor Augen. So ist es in jedem Einzelfall. Es gibt offenbar keinen Seelenzustand und kein äußeres Geschehen, die Fischer-Dieskau nicht tief überzeugend zu interpretieren vermöchte.

Er macht es sich nicht leicht. Seine Programme sind immer ein Ganzes, sorgfältig durchdacht und abgestimmt. Die bekannten und beliebten und so oft gehörten Stücke werden in den Zugabeteil verwiesen. "Über allen Wipfeln", "Das Wandern", "An Sylvia", "Im Abendrot", aber auch sie werden in seinem Munde neu.

Schubert allein regierte. Mit Liedern, denen man selten oder gar nicht in der Öffentlichkeit begegnet. Wer anders würde so etwas wagen und wagen dürfen? "Dem Unendlichen", "Der Kreuzzug", "Wehmut", "Totengräbers Heimweh", "An Schwager Kronos", "Meeresstille", "Prometheus", "Der Wanderer an den Mond" – gewiß, das eine und das andere kennt man näher. Wie aber ist es mit der von Liebe durchfluteten romantischen Landschaft "Über Wildemann", mit dem abgründig melancholischen, visionär dramatischen "Der Zwerg", mit dem stimmungsfeinen "Im Frühling", mit "Nachtviolen", "Geheimes" und "Abschied"?

Wieviel bedeutet es, auch den Menschen Fischer-Dieskau zu sehen und zu erleben, die starke Persönlichkeit in ihm zu spüren, eine Persönlichkeit, die so intensiv aus sich heraus wirkt und von keinem Quentchen Gefallsucht beeinträchtigt wird! Eine Welle von Sympathie schlug ihm entgegen, sie war fast fühlbar. Aber er verdient diese Zuneigung, verteilt er doch durch seine Kunst Glück und Freude. Leider vergehen die Stunden zu rasch und schließlich nützt aller Beifall, alles Bitten und Betteln nicht mehr. Der Gast muß durch die Blume sprechen: "... Herr Meister und Frau Meisterin, laßt mich in Frieden weiterziehn", und - als auch das nicht fruchtete – mit Mantel und Hut erscheinen.

Von dem Lob, das wir spenden, gebührt ein tüchtiger Teil auch Günther Weisenborn, Fischer-Dieskaus Partner am Klavier, Mitgestalter am Instrument. Er weiß jede Nuance, jede Regung, er färbt, unterstreicht sie behutsam, er ist die Zuverlässigkeit selber. Eine ideale Zweiheit, diese beiden Musiker! Wir freuen uns bereits auf ihren nächsten Besuch.

A. Z.

Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 6. Mai 1958     

  

In tönender Schönheit

Dietrich Fischer-Dieskau sang ausgewählte Schubertlieder

    

Wie kaum ein anderer Sänger besitzt Dietrich Fischer-Dieskau die Gabe, die Poesie des Worts vollkommen in die musikalische Dimension zu rücken, in der sie mit neuem geheimnisvollen Glanz von zauberhafter Schönheit und Innigkeit umkleidet wiedergeboren wird. Er schmeckt Empfindung und Empfindsamkeit des Liedes sozusagen auf der Zunge, ehe seine geisterhellte Gestaltungskraft mit unmittelbarer Sicherheit und natürlichem Instinkt das reine Wesen und das Ausdrucksformat der Komposition offenlegt. Dem atemlos lauschenden Hörer geschieht dabei immer wieder das Wunder bewegenden und verwandelnden Verstehens, Resonanz eines Kunsterlebnisses, das tief unter die Haut dringt.

So geschah es im Saalbau im 9. Weberschen Meisterkonzert, in dem Dietrich Fischer-Dieskau sein Publikum für den sehr verspäteten Beginn mit der Frische und phantasiereichen Innigkeit ausgewählter Schubertlieder entschädigte. Welcher andere Sänger weiß noch so intuitiv und durchdringend um das geheimnisvolle melodische und psychische Leben um die verführerischen Spannungen der tönenden Gestalt dieser Kostbarkeiten des Gesangs! Es ist ein träumerisches Spielen und Sichverlieren, ein behutsames Liebkosen und männlich besonnenes Ergreifen ihrer wechselnden Stimmungen und Seelenlagen. Immer spürt man den letzten menschlichen und künstlerischen Wahrheitsgehalt in der durchdachten feinfühligen Lauterkeit des Vortrags, im schlackenlosen edlen Klang dieser Stimme, die markig und ehern ausbrechen kann und dann wieder ebenso zart die letzten Schwingungen zwischen Ton und Stille findet.

Beispielhaft stellt sich Günther Weißenborn am Flügel auf den Stil des Sängers ein. Er ist sein idealer Begleiter. Sein Musizieren trägt und formt, unterstreicht und akzentuiert die zauberhafte innere Harmonie des instrumentalen und vokalen Geschehens. So muß es sein, wenn Schubertlieder vollendet wiedergegeben werden sollen. Man war im ausverkauften großen Saal darüber sehr glücklich und auf Zugaben begierig, die Fischer-Dieskau auch freigebig zugestand.

A. v. D.

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