Zur Oper am 22. Dezember 1957 in Berlin

FAZ, 28. Dezember 1957

Fischer-Dieskau als Falstaff

[...]

Nun ist mit "Falstaff" erfüllt, was Ebert seit Jahren anstrebt: die völlige Amalgamierung von Musik und Szene, Gesang und Wort, Klang und Geste. Die Premiere, kurz vor Weihnachten herausgebracht, ist ein Triumph des musikalischen Theaters, bei dem Shakespeare und Verdi gleichermaßen zur Geltung kommen. Und dabei steht der ganze Abend im Zeichen eines großen Künstlers: Dietrich Fischer-Dieskaus.

Ich bekenne, daß ich mit etwas Bedenken von dem Plan hörte: wie, der romantische Träumer, der Sänger Schumannscher und Wolfscher Lyrik, der Faust in Busonis Oper, der Wolfram von Eschenbach und Don Carlos, der Inbegriff des sittlichen Adels – er soll zum komischen Geld- und Schürzenjäger werden, zum Verächter der Ehre, zum Weinsäufer und Kapaunenfresser?

Da sitzt er im Lehnstuhl der altenglischen Kneipe von Caspar Neher: verkommen und liebenswert, Löckchen rund um die Glatze, vergnügte Schelmenaugen über der Stupsnase, mit Grübchen und einem Mund, der blitzrasch vom genüßlichen Lächeln in Haudegenzorn umschaltet. Mächtig hebt sich sein Korpus, "dieses Prachtgebäude" mit dem kolossalen Wanst auf dünnen Riesenbeinen: ein Jupiterbild steht vor uns, und es hebt zu singen an. Da fließen die Töne aus einer unerschöpflichen Fülle der Register, der parodierenden und belkantierenden Farben, von Bassestiefen bis ins erstaunliche Falsetto, das die imaginäre Weiberstimme nachahmt: "Mein Liebster ist John Falstaff". Da grollen die rhetorischen Fragen an den ratlosen Pistol: "Kann die Ehre dir einen Fuß wiedergeben? Eine Zehe? Einen Nagel?" Da verklärt sich ein Pianissimo im Nachgenuß des Sardinchens, da federt das flinke A-Dur-Parlando des Pagenliedes. Das alles ist lückenlos richtig, aus einer perfekten und dabei von innerer Emotion bewegten Singkunst gewachsen, eine Meisterleistung sui generis. Was aber wäre es ohne die mimische und gestische Ergänzung! Fischer-Dieskaus Hände, wenn er das Wort Ehre als leeren Schall in die Lüfte verabschiedet, wenn er lüstern und chevaleresk Alicen an den Kleidausschnitt rührt, wenn er aus leicht gehobenem Korbdeckel in das schöne Holzgetäfel der Fordschen Diele lugt. Jede Bewegung sitzt, ist beobachtet, wird künstlerisch kontrolliertes Leben. Dieser Falstaff ist eine der beglückendsten Shakespeare-Figuren auf den Berliner Bühnen nach 1945.

Da ist einmal Eberts Regiekunst an einem Idealfall bewährt. Sie glänzt und beglückt auch in den übrigen Teilen der Aufführung: In der plastischen Ausarbeitung der Dienerrollen (der winzige, akrobatenhaft bewegliche William Forney-Bardolph als Gegensatz zu dem schlaksig-großen Fritz Hoppe-Pistol), in dem rhythmischen Gegeneinander des Frauenquartetts und der fünf Männer im zweiten Bild, im hysterischen Imbrolio der Ford-Diele, etwas schwächer in der nächtlichen Parkszene, deren Bild Neher in köstliche Farben bettet.

Was für ein Ensemble: die stimmklare, zwischen Geschmeicheltsein und Empörung vermittelnde Elfriede Trötschel (Alice), die weiblich-stolze, mit blitzblankem Mezzo parlierende Nada Puttar (Meg), die drollig als Matrone maskierte, gravitätisch chargierende Sieglinde Wagner (Mrs. Quickly), die kühl und köstlich diskantierende Hedi Klug (Ännchen). Nicht minder schön anzuhören die Männer: Ernst Haefliger, dessen mozartischer Tenor das As-Dur-Liebeslied so stilklar aussingt, wie Marcel Cordes den Eifersuchtsmonolog des Ford gestaltet.

Neu für Berlin, so herzlich empfangen wie stürmisch bedankt: Alberto Erede am Pult. Ein Idealfall an präziser, flinker Studierung der Ensembles, an diskreter Begleitung, an Beflügelung des Orchesters, der Bläser namentlich. Dazu eine malerische Erscheinung, Ansermet plus d’Annunzio, mit sensitiven Fingern die metrischen Verwicklungen des Nonetts ordnend, mit dem Spitzbart zusätzliche Signale einwerfend: ein lateinischer Maestro, dessen Autorität sich spürbar den ganzen Apparat unterwirft, ein Tempo unmerklich aus dem anderen wachsen läßt und mit den Sängern, den Situationen zu leben scheint, von den lyrischen Ruhepunkten bis zum buffonesken C-Dur-Kehraus der Falstaff-Weisheit "Alles ist Spaß auf Erden".

H. H. Stuckenschmidt

     


  

     unbekannte Presse, unbekanntes Datum     

  

Immer seltener werden die Theaterabende in jener Höchstform, die man das "Berlinische Format" nennt. Unter den vielen Festgaben der Bühnen ist dieses Mal nur eine wahrhaft repräsentativ: die "Falstaff"-Inszenierung Prof. Eberts. Das hatte den Glanz und Schwung aus der Schillingszeit. Immer wenn Ebert die Zügel führt, weiß man schon nach den ersten Szenen, daß hier eine Hand am Werke ist mit einem Griff, den man sonst in diesem Hause leider selten spürt.

Bei ihm wird das Spiel um den versoffenen, liebestollen Ritter nie eine Posse; immer bleibt es die Opera buffa des altersweisen Verdi. In den kostbaren Bildern Caspar Nehers, die oft an alte Meister erinnerten, sang und spielte eine Sängerelite, voran Fischer-Dieskau, nie vergröbernd, immer Kavalier, und neben ihm Elfriede Trötschel, Sieglinde Wagner, Ernst Krukowski, um ein paar Namen zu nennen. Glänzend studierte Chöre (Hermann Lüddecke) und vollblütige italienische Musik aus der Hand des Italieners Alberto Erede von der Deutschen Oper am Rhein.

 

zurück zur Übersicht 1957
zurück zur Übersicht Kalendarium