Jahrbuch 1995 der Wiener Staatsoper

"MUSIK ALS HINTERGRUND KANN ICH NICHT GEBRAUCHEN"

Dietrich Fischer-Dieskau im Gespräch mit Peter Dusek (in Wien 1994)

Dusek: Herr Kammersänger Prof. Dietrich Fischer-Dieskau, was soll man eigentlich zu ihm sagen? Eine Jahrhundertstimme, einer der vielseitigsten Sänger, Dirigent, Maler: Sie haben so viele Begabungen, so viele Rollen auf die Bühne gebracht, so viele Gesichter dargestellt. Eine erste Frage zielt vielleicht auf einen Umstand, den man, wenn man Statistiken spielen läßt, gleich bemerkt: Sie haben in Salzburg 26 Liederabende, 100 Auftritte gehabt, in der Wiener Staatsoper waren es relativ wenige. Hängt das damit zusammen, daß einer Ihrer Ahnen, ein General Dieskau, dem Friedrich von Preußen die Gewehre verbessert hat und gegen die Habsburger dann die Siege errungen hat?

Fischer-Dieskau: Das ist nicht ganz zutreffend. Mein Vorfahre hat Artilleriebahnen neu beschrieben, sodaß Friedrich ein paar Schlachten hat gewinnen können.

Dusek: Da war ja eine gegen Österreich dabei.

Fischer-Dieskau: Ja, aber all dieser Militarismus ist auf mich nicht übergegangen. Es ist nichts an mir kleben geblieben. Im Gegenteil, ich war ein völlig unmöglicher Soldat.

Dusek: Sie sind geboren und aufgewachsen in Berlin. Diese Familienbande ist relativ stark. Ihr Vater war Gymnasialdirektor in Zehlendorf.

Fischer-Dieskau: Ja, er hat dort gleich drei Schulen gegründet.

Dusek: Er hat auch Musik aufführen lassen. Sie sind in einem großbürgerlichen, musikalischen Heim aufgewachsen.

Fischer-Dieskau: Kleinbürgerlich. Großbürgerlich waren eher die, die im Nachbarvorort von Berlin gelebt haben, in Dahlem nämlich. Mein Vater hat sich vielseitig betätigt. Vielleicht habe ich von ihm diese etwas auseinander- strebenden Talente geerbt. Das mag sein.

Dusek: Was strebt da am meisten auseinander? Der Dirigent oder Sänger?

Fischer-Dieskau: Die Malerei und die Musik am allermeisten. Es gibt furchtbar viele Menschen, die vergleichen Musikalisches mit Malerischem: daß man mit Linien und Farben musikalisch malen könnte. Ich glaube, daß das nicht stimmt. Das wendet sich an zwei verschiedene Sinnesorgane und ist daher auch vollkommen verschieden.

Dusek: Wenn Sie malen, hören Sie da Musik, etwa Dietrich Fischer-Dieskau mit der Winterreise?

Fischer-Dieskau: Nein, ich weiß von berühmten Malern - der Paul Klee hat immer Musik gehört, wenn er gemalt hat. Aber ich habe das eigentlich immer vermieden, weil mich das ablenkt. Musik als Hintergrundgeräusch kann ich nicht gebrauchen.

Dusek: Wenn Sie Musik hören, was tun Sie dann?

Fischer-Dieskau: Ganz einfach zuhören, möglichst alles hören; das heißt, den Gefühlsinhalt, der drinnen ist, aber auch die Strukturen, die Formen, die verschiedenen Stimmen, die vorkommen: Das ist, was ich mir unter einem idealen Zuhörer vorstelle.

Dusek: Herr Fischer-Dieskau, Sie haben soviele Platten aufgenommen, daß jetzt ein Buch erscheint, eine Diskographie mit 450 Seiten, nicht Titeln.

Fischer-Dieskau: Ich habe immer daran gezweifelt, daß der Archivar, der damit beschäftigt ist, das überhaupt schafft. Aber er hat mir vor ein paar Tagen gesagt, daß das Buch zu meinem Geburtstag, einem unüberwindlichen Geburtstag, fertig werden soll.

Dusek: Haben Sie je diese Aufnahmen, die Sie sehr oft in dem Nachbarort, in Berlin-Dahlem, aufgenommen haben, am Schluß noch einmal angehört.

Fischer-Dieskau: Ohja, das habe ich immer getan, möglichst mit einem gewissen Abstand zur Entstehungszeit, daß man die kritische Einstellung sich selbst gegenüber wieder gewinnt. Ich glaube, daß sich selbst kritisch zuzuhören, überhaupt das Wichtigste ist.

Dusek: Das unterscheidet Sie von vielen Kollegen. Die haben nämlich zum ersten Mal hier ihre Aufnahmen gehört.

Fischer-Dieskau: Das mag sein. Bei meinen Schülern versuche ich, das anzuerziehen, daß sie sich selbst kritisch zuhören; das heißt nicht unbedingt, daß sie immer neben sich stehen müssen und niemals wirklich mit dem konform sind, was sie singen müssen, son- dern erst einmal lernen, sich selbst zu kritisieren. Das ist die einfachste Regel.

Dusek: Wir haben begonnen mit "Hochzeit des Figaro", Dirigent war Karl Böhm. Es war nicht Wien, weil dazu die Vorstellungen in Wien zu selten waren. Es gab gar keine Übertragungen.

Fischer-Dieskau: Es war gar nicht so selten. Wir haben im Redoutensaal sehr häufig Figaro gemacht, und zwar mit diversen Dirigenten und mit wunderbaren Partnerinnen. Das war überhaupt eine tolle Zeit.

Dusek: Aber das war nur eine kurze Zeit, drei Dutzend Vorstellungen.

Fischer-Dieskau: Na, so kurz war sie auch wieder nicht. Es waren 5 große Rollen dabei.

Dusek: Und wie groß ist Ihr Repertoire?

Fischer-Dieskau: Das habe ich nicht gezählt: Ich würde sagen, an die 50 auf der Bühne und dann kommen noch ungefähr 30 bis 40 für Schallplatten und Rundfunkaufnahmen dazu.

Dusek: Bitte, dann haben Sie in Wien doch nur einen kleinen Teil gezeigt. In Salzburg waren es hundert!

Fischer-Dieskau: Hundert Abende, aber mit weniger Rollen als in Wien.

Dusek: Ich habe Sie in München gehört: Arabella, Salome waren phantastisch. Mein großes Fischer-Dieskau-Erlebnis in Wien war Falstaff. Wer da drinnen war, weiß, daß das einer der großen Glückmomente der Oper in Wien gewesen ist. Falstaff in Wien, in einer Zeit, die besonders unerwartet einen musikalischen Höhepunkt erlebt hat. Wir waren damals alle ganz depressiv, Karajanlose Zeit, Karajan weg, nicht einmal noch die Salzburger Osterfestspiele gegründet. Wien war in Staatstrauer, die Opernfreunde zumin- destens. Dann kam der für uns gar nicht so bekannte Bernstein, probte Falstaff, man ging hinein und man erlebte das Wunder einer Aufführung, das glaube ich, zeitlos ist.

Fischer-Dieskau: Das war ein Trostpflaster, der Bernstein, zweifellos.

Dusek: Das war die Überraschung, daß es so etwas gibt. Wir haben ihn ja dann kennengelernt, als Komponist..Wie sind Sie in diesen Falstaff gegangen? Von den Proben her, war das für Sie auch schon eine vorprogrammierte Sensation?

Fischer-Dieskau: Also ich bin zur ersten Stellprobe gekommen. Da sah ich Visconti, den Regisseur, in der Nähe des Souffleurkastens stehen, umgeben von einer Schar von Assistenten, wie das ja damals schon üblich war. Heute ist es noch schlimmer, da sitzt die ganze Rampe voller Assistenten gleich bei der ersten Bühnenprobe, sodaß keiner der Solisten sich wirklich konzentriert auf das, was er machen soll. Man hat immer Angst - oh Gott, der schüttelt jetzt den Kopf, der lächelt, der ist böse - , was macht man, also wirkliche Konzentration ist schwierig. Und damals fing das gerade an und Visconti drehte sich um, sah mich "Oh Lei è il mio Falstaff". Er war enttäuscht, ich sah noch ziemlich jung aus, besser als heute. Aber dann haben wir angefangen zu probieren und er taute zusehendst auf und machte zum Schluß alles, was ich ihm vormachte, auch noch mit, die ganzen Bewegungen, es war unglaublich. Das ist dann eine schöne Zusammenarbeit geworden. Am Schluß hat er mich allein gelassen, das war ihm eigentlich egal.

Dusek: Und die Begegnung mit Bernstein?

Fischer-Dieskau: Mit Bernstein war die Begegnung ja schon etwas früher. Aber in Wien haben wir das dann bekräftigt, z.B. mit dem Lied von der Erde mit den Philharmonikern. Er war wahnsinnig aufgeregt, es war sein allererstes Lied von der Erde, das er dirigiert hat. Falstaff war für ihn nicht neu, den hatte er ja schon woanders dirigiert. Aber wir sind ja alle davongeflogen, von diesem Temperament wie von einem Sturmwind geblasen sind wir da auf der Bühne gewesen.

Dusek: Und die Philharmoniker, das war Liebe auf den ersten Sprung, auf den ersten Hupfer, würde man auf Wienerisch sagen?

Fischer-Dieskau: Ja, bei ihm ja wirklich. Er sprang ja beim Dirigieren in die Höhe, manchmal recht hoch.

Dusek: Waren die Sprünge immer gleich, oder war das Abendverfassung?

Fischer-Dieskau: Ganz unterschiedlich. Er war überhaupt nicht festgelegt auf seine Bewegungen. Man mußte gefaßt sein am Abend auf diverse Überraschungen.

Dusek: Der Falstaff ist eigentlich eine Mischung aus tragisch-komisch, altersweise und geht sich selber in die Falle. Wie würden Sie den Falstaff in drei Worten charakterisieren?

Fischer-Dieskau: In drei Worten kann man den nicht charakterisieren. Es ist eine schwierige Geschichte. Es ist in Italien geschaffen worden, die Figur, aber sie ist erdacht in England. Irgendwo treffen wir uns hier in der Mitte sozusagen. Und alle die Elemente, die dazu gekommen sind, alter europäischer Kultur, haben in dieser Oper etwas zu sagen und zu tun. Gar nicht so einfach. Er muß zugleich ein Sir sein, muß aber auch clowneske Elemente haben. Er ist ein Dummkopf und ein Gescheiter.

Dusek: Widerspruch des Lebens.

Fischer-Dieskau: Er sagt ein paar sehr schöne Sachen.

Dusek: Und was sagt er da über die Ehre?

Fischer-Dieskau: Über die Ehre, lohnt sich gar nicht darüber zu sprechen. Das ist ein Wörtchen, una parola.

Dusek: Und die Ehre des großen Sängers?

Fischer-Dieskau: Die Ehre ist nicht so wichtig. Der Beifall. den man abends hat, das ist das Wichtige, glaube ich.

Dusek: Es ist eine geniale Aufführung gewesen. Es hat alles zusammen gestimmt. Oft sagt man, die Erinnerung verklärt. Aber bei diesem Falstaff überhaupt nicht.

Fischer-Dieskau: Ich habe einmal mit Bernstein eine ziemlich schwierige Situation erlebt. In der Pause vor den zwei letzten Bildern, sagte er "Kommt alle her" und schimpfte "Wahnsinn, das war alles nicht präzise. Wenn es so weitergeht, reise ich ab und es wird überhaupt nicht weitergespielt". Ich stand direkt vor ihm, weil ich ja die Titelfigur war und war etwas verdeppert und dachte, "was mache ich jetzt?" - "Was habe ich denn eigentlich falsch gemacht?" "Ach, Dich meine ich doch nicht."

Dusek: Wen hat er gemeint?

Fischer-Dieskau: Die anderen, ich weiß auch nicht.

Dusek: Sie sind ja auch als Schriftsteller nicht nur in eigener Sache tätig, Sie haben über Schubert, Schumann und einfach über Musik geschrieben, sehr eingehend über viele große Dirigenten. Sie haben ja unter den größten Dirigenten gesungen.

Fischer-Dieskau: Das sind ja auch die wichtigsten Gegenüber, die ein Sänger hat.

Dusek: Aber nicht jeder hat so viele erlebt.

Fischer-Dieskau: Das stimmt.

Dusek: Sie haben im zarten Alter, wo die anderen erst die Schulbank des Sängerberufes drücken, 1950, 1951, 1952 haben Sie mit Furtwängler, Bruno Walter, Barbirolli schon musiziert. War Ihnen das damals klar, daß nicht jeder junge Bariton so von der Glücksfee geküßt wird?

Fischer-Dieskau: Auf der anderen Seite muß ich sagen, ich hatte es verhältnismäßig leicht, denn es war weit und breit nicht allzuviel zu sehen. Nach dem Krieg war das Feld noch nicht so mit reisenden Tenören, Baritonen und Sopranistinnen besät wie heute. Heute ist das ja unglaublich. Wer heute anfängt, hat es ja viel schwerer. Damals fiel ich so in eine Lücke. Furtwängler - als ich zur ersten Orchesterprobe kam ins kleine, damals noch einzige Festspielhaus in Salzburg, war der Raum leer, das Orchester war da, er probierte die Hebriden-Ouvertüre von Mendelssohn. Ich setzte mich in die zehnte Reihe und er schaute sich plötzlich etwas indigniert um und sagte "Wer ist denn das?" Jemand flüsterte ihm zu "Das ist der Solist". Er hat mich nicht erkannt auf die Entfernung. Wir haben uns vorher nur einmal getroffen, ich habe für ihn gesungen. Aber das hat er wohl vergessen, ich weiß nicht.

Dusek: Sie schreiben in Ihrem Buch, daß die großen Dirigenten - Sie meinen, glaube ich, von Furtwängler bis Bernstein - gar nicht so eine präzise Zeichensprache haben, wenn das Mittelmäßige übernehmen würden, wäre das sehr gefährlich. Nur die ganz Großen können es sich leisten, unpräzise zu sein.

Fischer-Dieskau: Ich finde auch, Sie müssen es sich leisten. Stellen Sie sich vor, all die großen Dirigenten wären mit präziser Zei- chengebung gesegnet! Das wäre furchtbar langweilig wahrscheinlich. Lauter Taktschläger.

Dusek: Aber wie errät man als Sänger oder als Musiker, was er wirklich meint?

Fischer-Dieskau: Genau darin liegt der Stempel der großen Persönlichkeit des Dirigenten, daß man sofort weiß, was er eigentlich will. Bei Herrn von Karajan war es oft so, daß man also auf den Schlag, wenn er oben angelangt war, singen mußte. Gemeint war der Schlag nach unten. Das hat aber überhaupt nichts geschadet, im Gegenteil. Mit ihm zu singen im Theater war, wie sich aufs Sofa legen. Böhm hat fast überhaupt nicht geschlagen. Er liebte seinen "Parkett", wie er das nannte, - mit dem Handgelenk ein bißchen hin und her. Das war höchstens soviel, auch wenn es forte wurde; das machte gar nichts. Allerdings hat er dann ein bißchen mit dem Oberkörper geritten.

Dusek: Aber es war immer so, als würde er das Kreuz entspannen. Während Knappertsbusch ja immer ganz ruhig blieb und nur bei der einen Steigerung aufstand.

Fischer-Dieskau: Knappertsbusch war für mich in Bayreuth ein Problem. Wir hatten uns nie kennengelernt. Ich sang die Generalprobe von Parsifal, war das erste Mal überhaupt in Bayreuth, trotzdem ohne jede Stellprobe und gleich mit Orchester, volles Haus, Knappertsbusch war auch da. Knappertsbuschs Schläge waren irgendwo ganz unten und ganz gewaltig. Das sieht man in Bayreuth so gut wie gar nicht; da verschwindet die Hand; einfach nichts! Entsprechend war ich einmal bei der Probe nicht ganz mit ihm beisammen und schon hör' ich von ihm: "Was macht denn der da oben?"

Dusek: Wenn Sie heute dirigieren, wie würden Sie sich als Dirigent charakterisieren?

Fischer-Dieskau: Das müssen andere machen. Das ist schwierig. Ich glaube, wenn einem das akustisch entgegentönt, was man sich vorgestellt hat, ist es wunderbar. Man darf nur nicht von vornherein mit der Vorstellung eines Klanges dirigieren und dann denken, daß einem das schon entgegengebracht wurde vom Orchester. Das ist eine ganz große Gefahr, etwas vorzuhören, was gar nicht kommt. Das versuche ich zu unterdrücken, diese Regung. Es ist natürlich sehr verführerisch.

Dusek: Sie haben zwei Häuser, Sie schreiben Bücher, Sie unterrichten, Sie dirigieren, Sie haben drei Söhne, die alle in der Musikwelt tätig sind: einer dirigiert, einer spielt Cello, einer ist Bühnenbildner. Die heißen übrigens Matthias, Martin und Manuel.

Fischer-Dieskau: Und alle Fischer-Dieskau!

Dusek: Was nicht selbstverständlich ist.

Fischer-Dieskau: Nein, das ist eine Bürde. Ich habe auch versucht, sie zu etwas anderem zu überreden. Es ist mir aber nicht gelungen.

Dusek: Frau Varady wird aber noch Frau Varady genannt: Eine in der Familie wenigstens. Aber wir könnten einmal ein Fest mit der ganzen Familie organisieren. Haben Sie so eine Veranstaltung je gehabt?

Fischer-Dieskau: Nein, nie. Ich habe einmal vorgehabt, in Feldkirch so etwas ähnliches zu machen. Da wollten wir alle eine Traviata machen, das wurde in der Presse in Österreich aber nicht sehr freundlich begrüßt. Daraufhin haben wir es schnell bleiben lassen.

Dusek: Wir haben heute ein paar Themen, die heiße Eisen sind. Sie sagen, in Wien, wenn es regnet, macht es mehr traurig.

Fischer-Dieskau: Traurig ist das falsche Wort. Es ist eine schöne Melancholie, etwas, was mich an Zeiten erinnert, die ich hier gar nicht erlebt habe. Dafür habe ich genug Bücher gelesen über diese Zeit.

Dusek: Ein zweiter Satz, den Sie sagen, tut aber besonders weh, daß nämlich in zwei Städten die bösartigen Kritiker besonders versammelt sind: Frankfurt am Main und Wien. Wen meinen Sie denn da?

Fischer-Dieskau: Die sind meistens schon gestorben! Ich bin ja sowieso lange als meine eigene Legende herumgelaufen. Ich habe eigentlich viel zu lange gesungen, viel zu lange. 47 Jahre, das ist wirlich eine lange Zeit.

Dusek: Sie haben sehr früh debütiert. Sie haben öffentliche Auftritte mit 17, 18 Jahren gehabt. Da haben Sie entweder gesungen Meistersinger-Schlußmonolog oder Winterreise. Heißt das, daß Sie von Anfang an eine Stimme hatten, die eben mächtig groß, wie wir es beim Falstaff gehört haben, und zugleich lyrisch weich war?

Fischer-Dieskau: Nein, sie war zunächst ganz lyrisch. Eigentlich eher ein schöner Oboenklang. Und das habe ich langsam. all- mählich auszubauen gesucht. Das ist gar nicht so einfach. Ich glaube. daß ich es mir fast ganz allein beigebracht habe. Das können Lehrer auch nur sehr am Rande. Lehrer sind eigentlich zu anderen Dingen da. Stupser zu geben in anderer Richtung, praktische Hinweise. was mußt Du im Ernstfall vermeiden und was mußt Du tun.

Dusek: Aber Ihre Lehrer haben von Anfang an den Liedsänger trainiert? Stimmt das? Beide Lehrer?

Fischer-Dieskau: Ja. Der erste Lehrer hat hauptsächlich Bach-Kantaten mit mir durchmusiziert. Man kann das nicht anders nennen. Er setzte sich ans Klavier, war schrecklich stolz darauf, daß er gut Klavier spielte und ich sang vom Blatt. Und so haben wir fast das gesamte Kantatenwerk in dem einen Jahr, das ich bei ihm war, durchgesungen. Ich bin sehr dankbar dafür. Das war eine wichtige Erfahrung. Nur Gesangsunterricht kann man es vielleicht nicht so gut nennen. Der zweite Lehrer war der entscheidendere. Er kam aus einer wunderbaren Schule, nämlich, wenn man die Reihe zurückgeht, Raimund von Zurmühlen, Julius Stockhausen und dann Manuel Garcia. Und diese Lehre habe ich sozusagen da gleich von Anfang an mitbekommen. Ich habe die Übungen gesungen, die auch schon Manuel Garcia seinen Schülern gegeben hat und das ist nicht nur die italienische Linie, das führt eben zu einer schönen Tonfülle, soweit es bei dem kleinen Organ, das ich im Original hatte, möglich ist.

Dusek: Der Herr Hotter hat auch behauptet, er habe mit einem kleinen Organ begonnen.

Fischer-Dieskau: Ich kann mir das gut vorstellen. Wir haben eine gewisse Ähnlichkeit. Er liegt zwar ungefähr eine kleine Terz tiefer, aber der Vorgang ist ähnlich gewesen. Ich habe wahnsinnig viel gelernt vom Zuhören beim Hotter. Das war für mich ein ganz wich- tiges Erlebnis.

Dusek: Ihre früheste Aufnahme, die ich auch vorspielen kann, da waren Sie 23 und da hört man, daß die Stimme nicht klein ist, sondern eine gottbegnadete Größe hatte von Anfang an.

Fischer-Dieskau: Naja, 23, ich habe ja mit 16 eigentlich angefangen, an der Stimme wirklich zu arbeiten.

Dusek: Wann hatten Sie den Stimmbruch?

Fischer-Dieskau: Gar keinen. Es ging ganz sanft hinüber. Ich habe nie gejodelt.

Dusek: Und Sie waren sicher, daß Sie Bariton bleiben?

Fischer-Dieskau: Ja, das war ziemlich klar. Man kann ja einen Stimmumfang ziemlich genau festlegen, indem man die Brüche, die oben und unten zwischen den Registern stattfinden, festlegt. Das ist ja sehr schnell zu erkunden. Viele wissen es nicht. Auch bei den Schülern ist es so, daß sie es manchmal nicht wissen.

Dusek: Es gibt aber Beispiele, daß jemand bis zum 40. Lebensjahr ein guter Bariton ist und dann ein berühmter Tenor wird. Also so eindeutig dürfte es doch nicht bei manchen sein.

Fischer-Dieskau: Doch, es ist eben dann meistens aufgrund eines Irrtums, eines früh angenommenen Irrtums, der dann sich mehr in die richtige Lage entwickelt. Das spürt der Sänger dann selber schon.

Dusek: Wir kommen zur Winterreise. Man kann sagen, die hat Sie Ihren ganzen Weg begleitet?

Fischer-Dieskau: Ja, und sie ist natürlich nie von mir wirklich erreicht worden. Ein Stück, so reich und so vielfältig und in sich so gültig, daß eigentlich niemand als Interpret wirklich die Nähe kommt. Das Stück ist für sich so groß, daß niemand es erreicht.

Dusek: Was ist das Schwierige daran? Diese Mischung aus Elegie, Weisheit, Resignation, Lebensfreude? Hotter hat gesagt, er hat die positiven Züge der Naturmalerei immer sehr hervorgehoben.

Fischer-Oieskau: Das würde ich bei mir nicht sagen. Im Gegenteil. Es ist ja so, daß Schubert zwar deskriptive Details drinnen hat, die aber nie soweit gehen, daß sie wirklich Natur abbilden wollen in den Tönen. Die Schwierigkeit ist, daß es sich um 24 Passionsstationen handelt aus eigentlich nur einem Seelenzustand heraus. Nur die Intensität wird von Lied zu Lied ein bißchen geändert und es wird zum Schluß hin eigentlich immer starrer, vereister. Dieser Eindruck muß am Schluß auch beim Hörer bestehen. Das ist wahrscheinlich auch das, was die ersten Hörer, als Schubert ihnen das vorgesungen hat, entsetzt hat, daß sie wirklich nicht mehr wußten, was sie sagen sollten.

Dusek: Sie haben Schubert in Amerika gesungen: Sie haben gesagt, die Amerikaner sind leicht suchtgefährdet, sie waren Fischer- Dieskau-Liederabend-suchtgefährdet. Die haben das in Serie abonniert. Die Japaner waren dann aber auch so ähnlich.

Fischer-Oieskau: Ja, das ist richtig. Die Idee, mehrere Abende nacheinander zu geben, bis zu vier an der Zahl, ist mir tatsächlich in New York gekommen. Dort ist das Konzertklima aber wieder ein bißchen anders, man kann tatsächlich improvisieren: Ich weiß, daß Svjatoslav Richter auch in New York zwei zusätzliche Abende einfach so im Laufe einer Woche angesetzt hat und dann war die Carnegiehall voll. Das ist natürlich zu Clara Schumanns Zeiten noch selbstverständlich gewesen. Sie schreibt dann an Brahms: "Ich bin in Frankfurt angekommen, vielleicht gebe ich einen Liederabend am Donnerstag, möglicherweise am Samstag noch einen.

Dusek: Ihre Biographie ist so überreich an Aufgaben und Rollen. Da drängt sich eine Frage auf: Wenn Sie sooft in Amerika waren, wieso haben Sie nicht an der MET gesungen? War der Herr Bing nicht interessiert an Dietrich-Fischkau?

Fischer-Dieskau: Ich glaube, er war nicht interessiert. Er hat mich gehört, ich habe ihm damals noch in der Berliner Städtischen Oper vorgesungen und er hat gesagt: "Wir wollen da noch ein bißchen warten." Aus diesem Warten ist ein langes Warten geworden.

Dusek: Er hat sich dann nie wieder gerührt?

Fischer-Dieskau: Nein, ich habe auch keinen allzu großen Wert darauf gelegt, weil ich dieses riesengroße Haus ohnehin nicht so schätze, wo man mit einem Fernglas wirklich nur noch Püppchen auf der Bühne sieht, vom Spiel gar nicht zu reden.

Dusek: Die amerikanischen Jahre, 14 Tourneen insgesamt, sind die nicht für einen feinsinnigen, kulturbesessenen Menschen wie Sie schrecklich, durch die mittelamerikanischen Städte mit Partyverpflichtungen? Sie sind berühmt und berüchtigt dafür, daß Sie Parties meiden.

Fischer-Dieskau: Ich erinnere mich, daß ich einmal in Cleveland zusammen mit George Szell auf einer Party war und er hat gesagt: "Ach, wir gehen jetzt zuerst in ein anderes Zimmer, wo niemand ißt, dort werden wir etwas essen."

Dusek: Das heißt, die Leute haben Sie wieder nicht gehabt. Ist das Klaustrophobie oder Schutz der Stimme?

Fischer-Dieskau: Vor allen Dingen das. Wenn man einen Abend hinter sich hat, kann man eben nicht über Rauch und andere Sprechstimmen hinweg endlos lang plaudern. Sonst kann man mit Garantie damit rechnen, am nächsten Morgen stockheiser zu sein.

Dusek: Sie kommen ja aus einer Familie, in der musiziert wurde. Ein Großvater, glaube ich, schrieb ein Standardwerk über evangeli- sche Kirchenmusik.

Fischer-Dieskau: Eine Hymnologie nannte man das damals. So ein Wälzer und ein entzückendes Deutsch. Der hieß Albert Fischer.

Dusek: Sie haben also auch Kirchenmusik als Jugendlicher und als Kind praktiziert. Die Liebe zur italienischen Oper, um die Sie ja Ihr Leben lang gekämpft haben, denn hinter diesen Einspielungen ist ja auch Kampf dahinter.

Fischer-Dieskau: Na soviel Kampf nun auch wieder nicht. Ich bin engagiert worden, ich habe mich um nichts bemüht. Es ist einfach alles an mich herangetragen worden. Die erste italienische Oper war der Don Carlo und Heinz Tietjen saß da als frischgebackener sozusagen neuer Intendant, obwohl er ja in Berlin schon erste Nummer für alle Staatstheater gewesen war; aber dann kam die sogenannte Entnazifizierung und er übernahm das westliche Opernhaus und er brauchte einen Bariton. Es war aber weit und breit keiner zu sehen, also hat er sich umgehorcht und mein damaliger Agent hat gesagt: "Ich habe einen jungen Kerl. Man muß aus- probieren, ob das geht." Da habe ich ihm vorgesungen und er hat gesagt: "Kommen Sie einmal mit, wir gehen ins Nebenzimmer, da singen Sie mir noch ein paar Schubertlieder." Das ist eine Seltenheit bei einem Opernintendanten, würde ich sagen. Dann hat er gesagt: "In vier Wochen singen Sie bei mir den Posa im Don Carlos. Das ist meine erste Premiere." Da sagte ich: "Ich habe doch keine Bühnenerfahrung, ich weiß von nichts." - "Ach, ein paar Arme und Beine zuviel das sind Kinderkrankheiten, das werden Sie schnell lernen. Wird schon kommen. Sie singen das." Also habe ich es gesungen. In den Kritiken stand meist drinnen: "Noch tut es die Stimme, bald wird es vielleicht auch das Spiel tun." Ich war so mager, daß ich überall ausgestopft werden mußte. Ich habe einen Panzer gehabt, damit ich nach etwas gleich schaue.

Dusek: Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, daß Sie sehr früh in London eine Bekanntschaft mit einem Schüler von Siegmund Freud hatten, der Ihnen geraten hat, zu dem, was man in der Literatur zu Fischer-Dieskau liest, nicht in den traditionellen Mechanismen verhaftet zu sein, also ausschließlich mit dem Singen und ein paar Hobbies, sondern zu versuchen, zwischendurch horizonterweiternde Aktionen zu erleben. Ein bißchen davon hat uns Frau Varady verraten: die bei den Häuser allein. Sie haben ein sehr bibliophiles, intellektuelles Haus in Berlin, jedenfalls eher als dieses bei München, wo Natur ist.

Fischer-Dieskau: Die beiden Häuser haben sich aber durch ganz praktische Notwendigkeiten ergeben, da eben die Opernhäuser von Berlin und München am meisten von uns beiden frequentiert wurden. Wir haben uns gedacht, immer im Hotel zu wohnen, ist nicht so schön, also bauten wir uns dort etwas.

Dusek: Aber in München haben Sie mehr die Natur und die Kreatur dabei. Fischer-Dieskau: Ja, das trägt außerordentlich dazu bei, daß man in München besser lernen kann. Ich glaube, daß die Menschen, die uns dabei zugeschaut haben, als wir den Aribert Reimann'schen Lear studiert haben, geglaubt haben müssen, wir seien wirklich wahnsinnig. Wir haben Unkraut gepflügt und derweil schwierige Phrasen von Reimann vor uns hin gesungen, laut noch dazu, sodaß auch andere Menschen es hören konnten. Sicher galten wir als nicht ganz geistig beisammen. Dusek:

Und das war keine buddhistische Versenkungsübung?

Fischer-Dieskau: Nein.

Dusek: Aber Sie haben sich mit dieser Philosophie beschäftigt und sich Ihr Leben lang mit horizonterweiternden Themen befaßt.

Fischer-Dieskau: Sicher. Siegmund Freud ist für mich ein Wunder an Sprachbeherrschung. Gerade die ersten Vorlesungen, die er hier in Wien gehalten hat, die mitstenographiert sind, sind von einem so reinen und wunderbaren Deutsch, wie man es selten überhaupt je bei einem deutschsprachigen Schriftsteller wieder erleben kann. Andererseits hat er aus seinen fabelhaften, türöffnenden Ansätzen oft Schlüsse gezogen, die mir ein bißchen kurzsichtig und nicht unbedingt wissenschaftlich erscheinen. Das ist aber eine andere Frage.

Dusek: Wir könnten ja eine Freud-Lesung hier in Wien machen. Singen und Psychoanalyse ist, glaube ich, noch nie dagewesen.

Fischer-Dieskau: Naja, die Psychologie des Sängers, aber auch die des Dirigenten wären interessante Buchstoffe, die es noch nicht so richtig gibt, glaube ich.

Dusek: Ich glaube, wir haben bis jetzt keinen Richard Strauss gehört und wir spielen jetzt das Arabella-Duett Mandryka-Arabella aus dem zweiten Akt 'Sie wollen mich heiraten'.

Fischer-Dieskau: Leider nicht mit meiner Frau, aber auch mit einer sehr guten Sängerin.

Dusek: Wir haben Aufnahmen mit Ihrer Frau auch da. Das ist die Salzburg-Aufnahme aus 1958 unter Keilberth mit Lisa della Casa!

Fischer-Dieskau: Das war mein erster Mandryka überhaupt.

Dusek: Und dieser Mandryka ist schon allerhand, der ist eigentlich eine unsingbare Rolle. Er muß ein Bär von einem Mann sein, er muß Höhe und Tiefe haben. Er ist ein bißchen tolpatschig, aber zugleich ein Sir. Obwohl er so draufgängerisch ist, ist er ein bißchen schüchtern. Er geht hin und sagt "Wer ist die auf dem Bild, ich möchte die heiraten" und dann sagt er "Aber nicht jetzt sofort. Ich will sie erst später sehen". Das ist doch eine sehr zwiespältige Figur.

Fischer-Dieskau: Sagen wir einmal scheu. Elegant, aber vom Lande.

Dusek: Von Zehlendorf.

Fischer-Dieskau: Zum Beispiel, Sie sagen es.

Dusek: Das Schwierige ist ja, daß dieser Mandryka einen ungarisch-slowakischen Akzent auch noch haben muß.

Fischer-Dieskau: Der Bühnenbildner Stephan Hlawa machte damals die Ausstattung in Salzburg und hörte mich den Dialog, der ja auch vorkommt, sprechen und sagte: "Ah, Sie sind einer von der Gegend, wo ich auch herkomme." Ich mußte ihn enttäuschen. Der Strauss geht natürlich mit dem Sänger in der Arabella gerade nicht freundlich um. Er hat ein unglaublich superpolyphones Orchester drunter mit allen möglichen zusätzlichen Stimmen, die keiner hört, die einfach so den Raum füllen und laut sind. Und sehr viele Sänger dieser Partie vergessen, wie viele Piani drinnen stehen. Gerade in der Singstimme. Man braucht nur ein bißchen die Noten zu studieren. Die Hälfte etwa ist leise. Und wer es so macht, der wird auch ein paar Jahre diese Partie singen können.

Dusek: Das ist das Problem. Es gibt immer mehr Sänger, die, wenn sie Stimme haben, kein Piano haben. War das Piano bei Ihnen eine Naturgabe?

Fischer-Dieskau: Das war der Ausgangspunkt. Ich bin immer vom Piano ausgegangen und tue es heute noch.

Dusek: Das Piano ist quasi die figlia dei forte. Ist das bei Ihnen auch so?

Fischer-Dieskau: Umgekehrt, das Forte ist der figlio des Piano, würde ich sagen.

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