SIE SIND EIN BARDE!

Interview mit Dietrich Fischer-Dieskau (©Hindemith Forum 5/2002, Hindemith-Institut Frankfurt/Main)

Sie haben eine imposante Zahl von Platteneinspielungen vorgelegt. Was fasziniert Sie an der Arbeit im Aufnahmestudio?

Studioarbeit bietet die Möglichkeit, genau zu analysieren, was man tut. Fast wie ein Naturwissenschaftler im Labor vermag der Künstler zu experimentieren. Dies setzt voraus, daß er scharf beobachtet und aufmerksam seinen Einspielungen lauscht. Störendes kann ausgemerzt werden, weniger gut gelungene Passagen werden verbessert. Auf der Bühne stehen diese Korrekturmöglichkeiten naturgemäß nicht zur Verfügung.

Gibt es Aufnahmen von Ihnen, mit denen Sie sich heute nicht mehr identifizieren würden oder von denen Sie sagen, das würde ich heute anders machen?

Oh ja, da gibt es sehr viele. Aber ich denke, fast keine ist so, wie ich es im Moment machen würde. Der Bezug zum interpretierten Stück ändert sich bei jeder erneuten Beschäftigung. Daher habe ich sehr viele Werke mehrmals aufgenommen - bis zu neunmal. Ich bereue es auch, daß ich bestimmte Werke nicht gesungen habe, zum Beispiel Simone Boccanegra von Verdi. Diese beeindrucken- de Oper hätte ich sehr gerne gesungen. Leider bin ich nicht dazu gekommen.

Ist es nicht frustrierend als Sänger über ein so "pflegebedürftiges Instrument" wie die menschliche Stimme zu verfügen, die immer sorgsam behütet werden will?

Ich glaube nicht, daß wir Sänger im Nachteil sind; denn zweifellos dürfen wir uns nicht erlauben, so viele Stunden zu üben wie ein Instrumentalist. Ein Instrumentalist muß weit mehr Zeit investieren, um das zu leisten, was von ihm erwartet wird. Im Verhältnis bleibt uns zum Leben mehr Zeit. Freilich müssen wir natürlich auf unsere Stimme aufpassen und dürfen uns nicht kaltem Wetter un- vorsichtig aussetzen.

Nach dem Krieg studierten Sie an der Berliner Musikhochschule bei Hermann Weißenborn. Wie waren die Studienbedingungen in dieser Zeit?

Das persönliche Moment war viel stärker ausgeprägt als heute. Der Unterricht war sehr stark auf Persönlichkeiten bezogen und die Verantwortlichen trachteten danach, viel bewährte Lehrer zu gewinnen. Auch Hindemith war ja als Leiter der Hochschule nach dem Krieg im Gespräch; leider ist es nicht dazu gekommen. Einer seiner Schüler, Paul Höffer, fungierte dann kurze Zeit als Leiter. In dieser Zeit stand die Musik im Mittelpunkt und damit ihre künstlerische Präsentation und Interpretation. Meines Erachtens sind heute zu viele Sparten unter ein Dach gezogen, das Individuelle kommt zu kurz.

Erinnern Sie sich an Begegnungen mit Paul Hindemith und seiner Musik?

Zum ersten mal habe ich ihn gesehen, als er und seine Frau Gertrud nach dem Krieg nach Frankfurt reisten und sich im Hotel eintrugen, ein einsames Hotel zwischen lauter zerstörten Häusern gegenüber dem Hauptbahnhof. Ich sah ihn, wäre fast auf ihn zugegegangen und hätte ihn angesprochen, war aber zu schüchtern. Kurze Zeit darauf haben wir uns in Berlin getroffen, als er mit den Berliner Philharmonikern sein Requiem 'Für die, die wir lieben' in der eigenen Übersetzung aufführte. Zusammen mit der fabelhaften Ira Malaniuk habe ich die Solopartien gesungen. Bei dieser Gelegenheit sagte er zu mir: "Sie sind ja gar kein Sänger, Sie sind ein Barde!" Es war ihm wohl nicht so oft vorgekommen, daß jemand die Botschaft von Musik und Text auf diese Weise dem publikum zu übermitteln suchte. Das Requiem habe ich mehrfach und mit verschiedenen Dirigenten aufgeführt und eingespielt, beispielsweise mit Fritz Rieger in München, mit Artur Rother in Berlin und mit Wolfgang Sawallisch in Wien. Welche Rolle spielte und spielt Hindemith im Nachkriegsdeutschland bei Künstlern und Künstlerinnen? Früher sehr viel mehr als heute! Ich kann mich noch gut erinnern, wie euphorisch der Cellist Enrico Mainardi für Hindemith schwärmte. Er hatte das Cellokonzert aus dem Jahre 1940 mehrfach aufgenommen und immer wieder in Konzerten gespielt. Mein sehr guter Freund, der Pianist Hans Erich Rieben- sahm - ein vorzüglicher Beethoven-Spieler -, nahm sehr oft Hindemith in sein Programm. Sjatoslav Richter hat ja bekanntlich alle seine Klaviersonaten gespielt und wollte noch kurz vor seinem Tode zum 100. Geburtstag Paul Hindemiths 1995 in Grange de Meslay bei Tours ein eigenes Hindemith-Festival veranstalten. Er hatte mich als Dirigenten engagiert, um neben anderen Werken Hindemiths Kammermusik Nr. 2 mit ihm am Klavier zu machen. Auch wollte er meine Frau, Julia Varady, in Hindemiths Marienleben op. 27 begleiten. Leider wurde er krank und zog sich von der Welt ganz zurück, so daß dieses Programm nicht realisiert werden konnte.

Welche Werke von Hindemith schätzen Sie ganz besonders?

Da gibt es eine ganze Menge. Vor allem sehr viele frühe Klavierlieder, die - Gott sei Dank! - inzwischen gedruckt vorliegen. Damals, als ich mich mit diesen Stücken auseinandersetzte, war dies noch nicht der Fall. Ich erhielt diese Lieder als Kopien der Handschriften vom Hindemith-lnstitut in Frankfurt. Bald darauf habe ich diese anspruchsvollen Werke im Konzert gesungen und mit Aribert Reimann als Klavierbegleiter auch auf Platte eingespielt. Beeindruckend ist, mit welchem Gespür Hindemith seine Textdichter wählte. Der Bogen spannt sich von Novalis bis zu Nietzsche und Walt Whitman. Auch spürte ich bei den Aufführungen seiner Musik, daß das Publikum bereitwillig seiner Musik folgte und sie befriedigt zur Kenntnis nahm. Das hängt wohl damit zusammen, daß man beim Hören die Konturen dieser Musik nachvollziehen und den strukturellen Aufbau erkennen konnte. Zu erinnern ist auch an Stücke Hindemiths, die weniger auf melodischer linie aufbauen als auf Hervorhebung des rhythmischen Elements. Zu nennen wären frühe Kammermusiken mit ihrer wilden Gestik und Motorik. Mit mehreren Kammerorchestern habe ich als Dirigent Hindemith-Abende veranstaltet, wo neben einzelnen Kammermusiken auch das frühe Ballet 'Der Dämon' aufgeführt wurde. Trotz der neuartig-wilden Züge in dieser Musik ist zu spüren, daß er auf den Schultern seiner Vorväter steht.

Neben ihrem Engagement für Hindemiths Lieder haben Sie sich auch um die erste Gesamteinspielung von seiner Oper Mathis der Maler verdient gemacht. Was fasziniert Sie an dieser Oper?

Lange vor der Platteneinspielung haben wir Mitte der fünfziger Jahre unter Richard Kraus den Mathis für die Bühnen gemacht. Gerne erinnere ich mich an diese eindrucksvolle Inszenierung mit dem ersten Auftritt von Pilar Lorengar, der fabelhaften spanischen Sopranistin, die inzwischen verstorben ist. Mir hat es immer wieder große Freude bereitet, dieses Stück aufzuführen. Musik und Text harmonisieren hier besonders gut, was wohl damit zusammenhängt, daß Hindemith das Libretto selbst schrieb. Ähnliches ist Hans Pfitzner in seiner Oper Palestrina gelungen. Faszinierend ist das Sujet dieser Opern: der schaffende Künstler, sei es Maler oder Musiker, im Konflikt mit seinem Gewissen und den Forderungen seiner Umwelt. Hindemith "übersetzt" den historischen Stoff in unsere Zeit, indem er Fragen aufwirft, die das Schaffen aller Künstler betreffen. Am Ende aller Auseinandersetzungen steht die Erkenntnis, sich mit allen Kräften der zu leistenden künstlerischen Arbeit zu widmen. Diese Einstellung entspricht meiner Überzeugung. HJW

zurück